Familienrollen, Kultur mit Kind

„Und das mit der freien Liebe war ja dann doch auch etwas komplizierter“. / Leben in der Kommune

Als Kind hat sie mehr als 10 WGs bewohnt und das im Westberlin der 1970er Jahre. Wie sie das geprägt hat, was sie davon mitgenommen hat und was ihr auch bei ihrem Beruf als Hebamme heute noch hilft, hat mir Jana verraten. 

Auf Facebook hast Du quasi im Vorbeigehen erzählt, dass Du selbst in einer WG großgeworden bist. In einem Berliner Altbau. Wie kam es dazu und vor allem wie war es?

Tatsächlich bin ich in mehreren West-Berliner WGs groß geworden. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich drei war und in den nächsten Jahren teilten sie sich die Kinderbetreuung. Das heißt, ich pendelte wochenweise zwischen den beiden. Sie zogen jeweils in WGs.
Da das WG-Leben so seine Tücken hat, blieb es nicht bei einer, sondern es wurde jeweils viel umgezogen (sicher mehr als 10 Mal ).

In meiner gesamten Kindheit hatte ich so zwei Wohnorte und meistens auch zwei Zimmer. Meine Eltern waren Studenten. Daher hatten wir ziemlich wenig Geld, aber sie hatten relativ viel Zeit und vor allem unglaublich viele Semesterferien. Mein Vater sagt, ich hätte in meinen ersten Jahren die meiste Zeit mit ihnen an griechischen Stränden verbracht.
Von den WGs haben mich zwei am meisten geprägt:  Mit meiner Mutter zog ich zuerst in die Martin-Luther-Straße in Schöneberg. Es war eine riesige (nein, gigantische) Altbauwohnung. Heute ist da ein Sportstudio drin.

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Das Haus in der Martin Luther Straße damals. Ich glaube unsere Wohnung war die, wo vorne die weißen Laken vorm Fenster sind. Die Wohnung ging über die gesamte Etage.

Die Wohnung war in zwei Hälften geteilt. Meine Mutter und ich wohnten mit drei (?) anderen Frauen in vier Zimmern auf der „Frauenseite“. Auf der „gemischten“ Seite wohnten elf Leute in neun Zimmern. Wir waren vier, zeitweise fünf Kinder. Boris war nur wenig älter als ich und wurde mein bester WG- und Kinderladen-Freund. Die Zwillinge Micha und Peer waren noch etwas älter und gingen schon zur Schule. Für einige Zeit wohnte noch ein jüngeres Mädchen da, an die ich wenig Erinnerung habe und irgendwann kam noch ein Baby.
Es war ja eine wilde Zeit und die Martin-Luther-Straßen-WG war im Prinzip so ähnlich wie die Kommune 1, nur nicht so berühmt. Es wurde unter den Erwachsenen viel experimentiert. Mit freier Liebe, mit geteiltem Besitz, mit offenen Türen. Auch die Wohnungstür stand Gästen immer offen. Es artete natürlich aus. Manchmal lagen fremde Menschen in der Badewanne. Oft war der Kühlschrank leer, obwohl gerade Massen eingekauft worden waren. Einmal kam uns im Hausflur ein Mann mit unserem kleinen Fernseher unterm Arm entgegen. Meine Mutter sagte ihm einfach, er müsse das Gerät da lassen. Das tat er dann auch. Er hatte ihn ja nur „ausleihen“ wollen. Mit dem klitzekleinen Schwarzweiß-Gerät mit drei möglichen Programmen, sahen wir Kinder Abends die Sesamstraße. Ein Bild davon hatte ich in diesem Blogparadenbeitrag schon mal gezeigt.
       
Ich hatte ein großes Kinderzimmer, in dem wir alle oft spielten. Es gab eine große (orangene) Gemeinschaftsküche und einen riesigen Gemeinschaftsraum. Dort waren Matratzenlager-Sofas und eine Pyramide aus Fernsehern, in denen jeweils nur ein, oder zwei Programme funktionierten. Im Gemeinschaftswohnzimmer wurde nächtelang diskutiert, Tee getrunken, und auch mal aus einer Tasse Muttermilch (von der frisch gebackenen Mutter verteilt) gekostet. Sicher wurde auch anderes konsumiert. Das habe ich als Kind aber natürlich überhaupt nicht realisiert.
Für uns Kinder war das WG-Leben ganz schön abenteuerlich. Wir wurden uns viel selbst überlassen. Es war ja die Zeit der antiautoritären Erziehung, die bei uns mehr oder weniger praktiziert wurde. Aber wir hatten ja auch immer verschiedene Ansprechpartner. Und wir hatten uns! Zumindest Boris und ich, wären sonst ja erst mal Einzelkinder gewesen.

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Foto: mit Boris.


So waren wir ein Vierer-Team. Wir stromerten durch die Straßen und warfen auch mal Wasserbomben auf Passanten und versenkten Fische im Klo, damit sie ins Meer schwimmen sollten. Kinder kommen ja auch mal auf solche Gedanken und uns hat einfach niemand davon abgehalten. Wir waren ziemlich wild.
Meine Mutter war irgendwann total genervt von dem völligen Chaos dort und wir zogen weiter. Erst für eine Weile zu einer Freundin in eine ganz kleine Hinterhauswohnung in der Hauptstraße (heute ist dort das „Havanna“, damals war da eine Rollerskaterdisco) dann weiter in eine reine Frauen-WG, in der Stierstraße (Friedenau).
Dort „regierte“ eine Frau, die sehr aktiv in der Frauenbewegung war. Männer waren in der WG eigentlich verboten. Einzige Ausnahme waren sporadische Liebhaber. Ein fester Freund war aber verpönt. Was für die Männer damals galt: “Wer zwei mal mit der Gleichen pennt – gehört schon zum Establishment“ sollte ja auch für die Frauen gelten. Gleichberechtigung eben.
In der WG habe ich unheimlich gerne gewohnt. Denn die offizielle Hauptmieterin der WG hatte eine Tochter: Jessica. Jessi und ich kannten uns schon seit unserer Geburt. Nun durften wir zusammen wohnen. Jessi ist bis heute meine Herzensfreundin. Wir erzählten allen, wir seien Schwestern – Wahlschwestern.
Es war toll. Wir hingen immer zusammen. Wir wurden gemeinsam eingeschult. Wir verreisten zusammen, mit unseren vier verschiedenen Elternteilen. Wir waren untrennbar. Es war toll. Wer wohnt schon mit seiner besten Freundin zusammen?!

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Mit Jessi an der Nordsee als Schneckendomteurinnen.


Was hast Du aus dieser Zeit mitgenommen? 
Ich würde über mich sagen, dass ich ein extrem toleranter Mensch bin. Ich denke, ich habe das aus dieser Zeit mitgenommen. Diese Leute hatten ja alle ihre Macken und Schrullen. Als Kind musste ich nicht nur mit meiner Familie klar kommen, wie jeder Mensch, sondern auch mit all diesen unterschiedlichen Charakteren mit ihren vielen, verschiedenen Lebensmodellen. Es wurde ja auch unglaublich viel ausprobiert in dieser Zeit. Ich habe also erfahren, dass es echt viele (gute) Wege gibt. Das hat mich sicher sehr geprägt. Das hilft mir auch bei meiner Arbeit als Hebamme.
Ich bin mit einigen Menschen aus der Zeit noch sehr verbunden. Mit Micha treffe ich mich regelmäßig. Jessi ist immer noch meine Schwester im Herzen. Wir sind eng verbunden. Ich war ihre Hebamme und Trauzeugin. Ich könnte jederzeit Nachts um Drei vor ihrer Tür stehen, wenn es denn nötig wäre mit einer Freundin zu quatschen. Ich möchte fast sagen, wir haben immer noch ein engeres Verhältnis zueinander, als zu unseren jeweils leiblichen Schwestern, die viel später geboren wurden.
Auch mit einigen der (damals schon) Erwachsenen habe ich noch guten Kontakt.
Autoritäten? Ich denke, damals waren alle bemüht darum möglichst keine Autorität auszustrahlen. Aber natürlich gab es schon Regeln. Meine Eltern waren auch nicht vollständig antiautoritär. Aber es war ein sehr freies Leben. Wir haben in WGs gewohnt, bis ich ungefähr 13 Jahre alt war.

Was hat besonders gut funktioniert? Wo gab es Reibereien?
Ach, das waren die üblichen Reibereien einer jeden WG. Wer wäscht ab? Wer kauft ein? Wer kocht? Es wird ein Plan gemacht. Der funktioniert nicht. Die Vorstellungen von „sauber“ und „dreckig“ sind unterschiedlich. Der Lieblingsjogurt wurde aufgegessen und nicht neu gekauft…
Es gab aber vor allem auch viel Streit um die richtige Haltung zu bestimmten Geschehnissen. Es war ja eine total politische Zeit. Über Gott und die Welt gab es nächtelange, heiße Diskussionen. Einige wurden politisch sehr extrem. Es gab mal Gerüchte, einer hätte bei uns für die RAF Sachen versteckt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Und das mit der freien Liebe war ja dann doch auch etwas komplizierter.

Was würdest Du anderen, Erwachsenen, empfehlen, die diese Form des Lebens wählen?
Unbedingt klare Regeln. Und ich glaube, es klappt eh nur, wenn man sich in bestimmten Einstellungen gleicht, sehr konfliktfähig und tolerant ist.

Und wie lebst Du heute? 
Ich glaube, ich bin eine der wenigen, die später nie in eine WG ziehen wollten. 😉 Ich bin mit 19 in meine erste eigene Wohnung gezogen und habe es extrem genossen, dort ganz alleine zu wohnen. Die WG-Erfahrungen hatte ich ja schon durch.
Mein Mann ist ganz anders, aber auch sehr alternativ aufgewachsen. Vieles, was ich erlebt habe, kennt er in ähnlicher Weise. Er hat auch eine Weile in einer WG gewohnt. In dem Haus wohnten aber auch noch einige Verwandte. Auch dort waren die Türen immer offen. Außerdem waren wir ja beide einige Zeit in einem Internat (dort lernten wir uns kennen). Das prägt auch und ist ja im Prinzip eine riesige WG.

Meine Kinder lieben die alten Geschichten. Wir waren viel freier damals, viel unkontrollierter – im positivem Sinne. Viel Attachement, aber kein Helikopter, sondern mehr freies Lernen. So würde ich das vielleicht beschreiben.
Mit unseren Kindern haben wir fünf wunderschöne Jahre lang in einem sehr offenen, kinderreichen Haus gewohnt. Dort wohnten ausschließlich Familien. Obwohl natürlich jede Familie eine eigene Wohnung hatte, konnten die Kinder überall ein und aus gehen. Unsere Kinder kennen also das Gefühl auf den Hof zu gehen und gleich eine Menge anderer Kinder vorzufinden, mit denen man spielen kann. Ich fand es auch ideal. Wir haben uns gegenseitig viel unterstützt: Mal was eingekauft, oder eben auf die Kinder aufgepasst. Leider platzte die Wohnung aus allen Nähten und wir haben uns irgendwann vergrößert. Aber diesem Modell trauere ich immer noch ein bisschen hinterher. Die Kinder auch…
Das ist für mich immer noch das ideale Wohnmodell: WG-Haus mit Rückzugsmöglichkeiten in der eigenen Wohnung.

Was für ein Verhältnis hast Du heute zu Deinen Eltern?
Ich habe zu meinen Eltern jeweils ein sehr gutes Verhältnis. Meine Mutter lebt auch in Berlin. wir sehen uns oft. Mein Vater lebt in den USA. Aber ich sehe ihn auch 2-3x pro Jahr und wir skypen mindestens alle zwei Wochen.

Welche Frage zu dieser Zeit, möchtest Du unbedingt noch beantworten, wurde aber jetzt nicht gestellt?
Ich möchte gerne noch sagen, dass sich vieles aus heutiger Sicht vielleicht echt seltsam und sehr chaotisch anhört. Es wird ja nun in der Erziehung immer so auf Beständigkeit und Rituale gepocht. Das ist etwas, das ich durchaus auch schätze. Aber Kinder sind auch sehr flexibel. Und ich denke, dass dieses Setting für meine Eltern, die mich ja sehr früh (mit 21) bekommen haben, echt super war. Sie hatten viel Zeit für mich. Und ich war gut aufgehoben. Sie konnten trotz Kind am Studentenleben teilhaben. Die Vereinbarkeit war ziemlich gut. Und auch wenn sich Einiges vielleicht sehr verrückt anhört – ich hatte eine ganz großartige Kindheit.

Hier geht es zu Janas Hebammenblog. Bilder wurden freundlicherweise von Jana zur Verfügung gestellt. 

Jeden Freitag wird hier nun ein Interview zum Thema „Außergewöhnliche Familienmodelle“ unter dem Schlagwort #familienrollen. Ihr kennt auch jemanden auf den das zutrifft, habt selbst eine Geschichte oder eine Idee, was Ihr unbedingt mal gerne lesen möchtet? Dann schreibt mir unter fruehesvogerl@gmail.com. 

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