Familienrollen, Kultur mit Kind

„Wer eine Mama hat, der darf sich auch mal fallenlassen, der darf den erfahrenen Rat annehmen und immer ein bisschen Kind bleiben“. / Kein Kontakt zu den eigenen Eltern: Saskia in den Familienrollen

Was kann eigentlich mit den #familienrollen passieren, wenn Kinder ihre Eltern beim Vornamen nennen? Darüber und wie sich ihre „andere Kindheit“ auf ihr Leben, mit selbst vier Kindern, auswirkt, hat mir Saskia vom Blog Essential Unfairness erzählt. 

Ich heiße Saskia, bin 38 Jahre alt und habe vier Kinder (1, 8, 11 und 12 Jahre alt). Ursprünglich bin ich Familienpflegerin, arbeite jedoch seit acht Jahren als Texterin. In meiner knappen Freizeit nähe ich gerne. Beim Bügeln verschlinge ich Hörbücher und bin nach 12 Ehejahren immer noch verliebt.

Als Familienpflegerin habe ich natürlich eine Menge sehr verschiedener Familienkonstellationen – und Beziehungen kennengelernt. Ich traf allerdings nur auf eine Familie, in der die Kinder ihre Eltern mitunter beim Vornamen nannten. Ich selbst habe das als Kind so erlebt.


Das Kinder ihre Eltern beim Vornamen nennen, ist ein umstrittenes Konzept.  Was hatte es auf Eure Beziehung für Auswirkungen? 

Wer beispielsweise mit einer Sabine und einem Peter statt mit einer Mama und dem Papa zusammenwohnt, der hat fürsorgliche Mitbewohner. Aber eben „keine“ Mama und keinen Papa. So hart würde ich das ausdrücken. Ich gehe mit einem Menschen anders um, wenn ich ihn duze – das weiß jeder.
Wer beispielsweise einem Amts- oder Würdenträger gegenübersteht, der kann sich ausmalen, wie es wäre, ihn einfach beim Vornamen zu nennen. Der Papst wäre dann einfach der Franziskus. Oder gleich der Franzi. Dass einem dabei Dinge verloren gehen, spürt man, wenn man sich das mal so vorstellt. Klar wäre es auch im Fall des Papstes verlockend unmittelbar, menschlich und nah. Aber zugleich verlöre ein gläubiger Mensch auf diese Weise sicherlich einen Teil des von ihm selbst gewünschten Respekts, der geistigen Anleitung und der Orientierung, der sich durch den Titel ausdrückt.

So ähnlich war es dann für mich auch bei meinen Eltern. Ich selbst kam auf die Idee, sie bei ihren Vornamen zu nennen und behielt das bis zum Ende unserer Beziehung zueinander so bei. Warum ich das damals mit vielleicht neun Jahren so wollte? Das weiß ich nicht. Aber sie fanden es toll. Später, als ich diesen Umgang mit den Vornamen selber kritisierte, sagten sie, ich wäre dafür ja wohl alleine verantwortlich, denn ich hätte es schließlich gewollt.

Mir fehlte es immer, meine „Mama“ anzurufen und um Rat zu bitten. Ich habe eben nur die Lebensbegleiterin mit dem Vornamen. Da fehlt einfach sehr viel, das man mit dem Titel „Mama“ assoziiert. Wer eine Mama hat, der darf sich auch mal fallenlassen, der darf den erfahrenen Rat annehmen und immer ein bisschen Kind bleiben.

Du hast einen Artikel darüber geschrieben, dass in Deiner Familie vieles „anders“ war. Was waren die groben Züge und wie sind die Auswirkungen heute? 

Meine Eltern leiden beide an Persönlichkeitsstörungen. Und mit ihnen litten wir Kinder, mein Bruder und ich, darunter. Im Rahmen der psychologischen Defizite war es für unsere Eltern angenehm, sich durch das Fehlen der elterlichen Titel innerlich aus der Verantwortung stehlen zu können. Meine Mutter sah ich immer mehr als meine Freundin. Eine zuverlässige und verlässlich wohlwollende Mutter zu sein, das lag einfach nicht in ihren psychischen Möglichkeiten.
Mein Vater hielt sich aus familiären Dingen gerne heraus und ging seinen Interessen nach.

Man kann ein so großes Thema, wie das Leben mit psychisch kranken Elternteilen, nur schwer zusammenfassen.
Ich versuche es einmal so: Ich war immer auf die Gefühle und Bedürfnisse meiner Mutter fixiert. Da sie sich selbst nicht gut regulieren und stabilisieren konnte, tat ich das von außen.
Bis heute spüre ich täglich die Auswirkungen: Meine Gefühle unterdrücke ich, balanciere meine Gegenüber emotional aus, bin niemals impulsiv oder affektiv. Ich zeige meine Gefühle meist erst nach innerer Reflexion. Oder eben gar nicht. Oft nehme ich sie nicht wahr. Ich spüre zum Beispiel Wut erst, wenn ich längst Verdauungsprobleme oder Halsschmerzen habe. Ich somatisiere also.
Ein weiteres Beispiel wäre, dass ich die schlechte Laune naher Bezugspersonen automatisch abzufedern versuche. Ist zum Beispiel mein Mann mies drauf, versuche ich sofort, dies auszugleichen.
Ich bin innerlich oft angespannt, in Hab-Acht-Stellung. Ich bin schnell verunsichert und habe Angst, mich falsch zu verhalten, weil ich noch die (kindliche) Angst in mir habe, mein Gegenüber könnte aus mir nicht sofort ersichtlichen Gründen unvorhersehbar negativ auf mich reagieren.
Es gibt noch viele weitere Folgen, doch diese sind im Alltag die präsentesten.


Du hast selbst vier Kinder. Was machst Du in der Erziehung Deiner Kinder ganz anders und was hast Du vielleicht sogar übernommen?

Meine Mutter war neben ihren starken Beeinträchtigungen eine sehr gute Beobachterin. Sie hat daher oft sehr treffende Sprüche geprägt, die ich übernommen habe.

Ich habe auch die christlichen Grundwerte übernommen, die meine Mutter mich lehrte. Weil ich diese als für ein menschliches Miteinander wertvolle Grundlagen sehe. Und so bieten meine Kinder älteren Menschen ihren Sitzplatz an, haben Mitgefühl, sind empathisch, können vergeben, lernen sich wie andere zu lieben und sich selbst reflektieren.
Sie sind dankbar und wissen das Glück ihrer weitgehend unbelasteten Kindheit zu schätzen. Dies alles ist mir wichtig.

Ansonsten habe ich von Anfang an alles daran gesetzt, eine unbedingt emotional zuverlässige, vertrauenswürdige und ehrliche Mutter zu sein. Das war sehr anstrengend, da ich mich dauernd reflektierte, um nur ja nicht wie meine Mutter zu sein. Das tat ich, bis mir ein Fachmann sagte, ich müsse nicht befürchten, wie meine Mutter zu sein, weil ich es eben ganz einfach nicht wäre. Ich habe ihre Erkrankung eben nicht. Da habe ich mich dahingehend entspannt. Allerdings waren die Kinder da auch schon im Grundschulalter und ich hatte sehr viel Energie investiert, um sie vor etwas zu beschützen, das so nie vorhanden war. Aus meiner Liebe heraus wollte ich alles Andere für sie, als das sie Ähnliches wie ich erleben müssen.

Du hast mit Deiner Ursprungsfamilie keinen Kontakt mehr. Wie geht Deine Familie, Dein Mann und die Kinder, damit um? 

Zuerst brach ich den Kontakt zu meiner Mutter ab. Das tat ich, nachdem durch meinen Therapeuten bestätigt wurde, was ich längst befürchtete, nämlich die Diagnose ihrer Erkrankung. Ich begriff schlagartig und sehr schmerzhaft, dass sie niemals zu einer echten Form von Liebe fähig sein kann. Ich bedauerte sie zutiefst und mich ehrlich gesagt auch gleich mit. Dann trauerte ich. Letztlich teilte ich meinem Vater damals diese Erkenntnisse bezüglich der Krankheit mit und er verarbeitete das so, dass er sich von ihr trennte. Zugleich übertrug er die Verantwortung für alles, das in unserer Familie falsch gelaufen war, auf sie.

Ich hatte mir wegen der Kinder wirklich den Kopf zerbrochen. Oft waren meine Eltern nicht bei uns zu Besuch gewesen. Das emotionale Interesse an den Enkeln und mir war vielleicht nicht sehr groß, so hingen die Kinder nicht so sehr an ihnen. Wenn sie kamen, brachten sie tonnenweise Spielzeug sowie massig selbstgestrickte Pullover mit und mein Vater tobte mit den Kindern. Das waren die Haupteindrücke von diesen Großeltern.

Als ich den Kindern dann mitteilte, dass ich den Kontakt zur Oma abbrechen möchte und erklärte, wieso ich mich dazu entschlossen hatte, da fühlte ich mich furchtbar. Irgendwie raubte ich ihnen doch die Oma! Dann musste ich auch gleich noch sagen, dass der Opa sich scheiden lassen wollte.

Während ich mir den Kopf zerbrach, sagte unsere damals neunjährige Zweitgeborene:
„Erstens: Die Oma hat uns nie wirklich lieb gehabt. Das haben wir immer gespürt. Die hat nur geguckt, dass wir nur ja ihre Klamotten nicht dreckig machen. Und Zweitens: Schön, dass der Opa endlich bemerkt hat, dass man mit der Oma nie glücklich sein kann.“
Sie waren abgeklärter als ich. Das war unfassbar. Die Älteste meinte dann noch in fast tröstendem und spaßigem Ton zu mir:
„Sag mal, müssen wir dann diese widerlichen, juckenden Pullover nie mehr anziehen? Großartig!“

Sie haben unheimlich Größe bewiesen, diese Kleinen. Sie wollten mich sicherlich auch beschützen und begriffen, dass die Oma mich sehr verletzt haben musste. Sie waren auf meiner Seite. Ich habe dennoch immer wieder gefragt, wie es ihnen damit geht. Zudem habe ich ihre Fragen beantwortet. Allerdings wissen sie bis heute nicht, wie weit die Verletzungen durch meine Mutter gingen. Ich werde dafür in der Zukunft den richtigen Zeitpunkt erspüren müssen, um es ihnen zu sagen. Sie teilten mir bereits, dass sie spürten, dass es Dinge gibt, die ich ihnen nicht sage und dass sie das ärgern würde.

Mein Mann hat unter der anstrengenden Beziehung zu meinen Eltern auch gelitten und war eher erleichtert.

Als ich dann entschloss, meinen Vater mit dem Teil seiner Verantwortung zu konfrontieren, wurde dieser sehr verletzend und forderte eine Kontaktpause. Ich habe ihm letztlich ausrichten lassen, dass nach seinem abschließenden Verhaltung zu beurteilen nie ein Vater aus ihm werden würde. Und dass ich daher den Kontakt nicht mehr aufnehmen möchte.

Das war für die Kinder etwas härter. In der Zeit nach der Trennung von meiner Mutter hatten mein Vater, mein Bruder und ich uns oberflächlich gesehen nämlich sehr schön zusammengerauft. Wir hatten zum Beispiel ein unvergesslich entspanntes und schönes Weihnachtsfest – eine Erinnerung, für die ich trotz allem sehr dankbar bin. Und die Kinder auch.
Sie waren sehr traurig, dass das Wagnis, sich mehr auf meinen Vater einzulassen, leider so schlecht geendet war. Auch dies konnte ich ihnen erklären. Ich wollte nicht, dass sie zu meinen Gunsten für ihre Trauer zu wenig Raum bekamen und ließ ihnen Platz für ihre Gefühle.
Loyalität halte ich für eine Tugend. Doch sie kann eben auch einengen und binden. Gerade Kinder sind zu Unglaublichem fähig, wenn es um ihre Eltern geht. Daher belaste ich die Kinder nicht mit meinen Gefühlen, sondern begleite sie eher durch ihre eigenen.

Lässt sich Dein Erleben vergleichen?

Prinzipiell kann man meine Ursprungsfamilie nicht gut mit anderen vergleichen – daher ist das Bei-den-Vornamen-Nennen eine Erfahrung, deren Auswirkungen vielleicht nur bedingt auf andere Familien übertragbar sind.

Allerdings würde ich bei einer losgelösten Analyse immer noch betonen, dass eine Schieflage der klassischen Konstellation entsteht. Es gibt gute Gründe dafür, seine Eltern zu „betiteln“. Wer aus Gründen der Idee einer partnerschaftlichen Erziehung glaubt, diese Titel besser wegzulassen, der ahnt vielleicht nicht, dass Kinder die Orientierung und Sicherheit dieser Titel aber brauchen. „Mama“ und „Papa“ stehen für verantwortliche Erwachsene. Sie kümmern sich. Jeder weiß, was zum Mama- und Papasein dazugehört und die Kinder können sich darauf verlassen, ein Stück weit entfernt vom Individuum hinter diesen Titeln, zu bekommen, was sie brauchen.

Danke Dir für Deine Offenheit, Saskia.

Die Bilder wurden von Saskia zur Verfügung gestellt.

Ihr habt auch eine außergewöhnliche Familiengeschichte? Oder eine Idee, welches Thema unbedingt mal in den Familienrollen vorkommen sollte? Dann schreibt mir eine Mal an fruehesvogerl@gmail.com. 

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