Familienrollen, Kultur mit Kind

„Ich habe mir in diesem jungen Alter selber Essen kaufen müssen, mein Vater flüchtete 1985 in die damalige BRD.“ / Familienrollen Interview DDR, Jugendamt, Großfamilie

Als ihr Vater in die damalige BRD floh, änderte sich für Viktoria alles. Von ihrer schwierigen Kindheit und wie sie den Alltag, heute, mit ihren fünf Kindern meistert: Davon erzählt sie in den #Familienrollen

Du bist Mutter von fünf Kindern. War Dir immer klar, dass Du so viele Kinder haben möchtest?

Mein Name ist Viktoria. Ich bin 36 Jahre, das 16te Jahr verheiratet und Besitzerin von fünf Terrorkrümeln in großer, kleiner und kleinster Form (12,11,11,5,2).

Dass ich einmal Mutter von fünf Kindern werde, hätte ich selber nie gedacht und geplant war es auch nicht. Nach den Zwillingen waren wir eigentlich so geschafft und mit der Planung fertig. Aber ich kann sagen, es ist toll sie zu haben, und zu sehen,wie sie doch alle unterschiedlich sind in ihrer Art und Weise.

Auf Twitter lässt Du durchscheinen, dass Deine eigene Kindheit nicht so rosig war. Wie wirkt sich das heute aus?

Viktoria mit acht Monaten.

Ja, da bist Du richtig informiert: Meine Kindheit war nicht so wirklich schön, tagelang allein, kaum was zu Essen und kein Geld.

Ich verdiente mir mein Essen, damals zu DDR-Zeiten,  noch mit Papier und Gläser sammeln: Ich ging bei Leuten klingeln und fragte danach. Früher war sowas auch normal, so dass niemand Verdacht schöpfte,dass ich damit mein Essen und Trinken finanziere. Als ich genug zusammen hatte,  brachte ich es in den Altstoffhandel und bekam immer paar Mark oder Pfennige.

Stolz ging ich dann in die HO und kaufte mir etwas zu Essen. Auch da kannte man mich bereits. Ich lud mir immer was in den Korb und ging zur Kasse und die Verkäuferin lächelte mich immer an. Manchmal war auch eine Gratis Schoki drin,die Kleinen mit Bildern von Fuchs,Pitti,Moppi usw. Ich konnte mit fünf oder sechs Jahren meinen Pudding kochen, meine Nudeln oder Reis.

Jetzt fragt Ihr Euch sicher, warum das alles? Bis 1985 wuchs ich in einer lieben Familie auf, als Einzelkind, was ich immer schade fand, aber nun für gut finde: Es reicht ja wenn ein Kind leidet.

Ich habe mir in diesem jungen Alter selber Essen kaufen müssen, mein Vater flüchtete 1985 in die damalige BRD. Und er kam nie zurück, ich hatte keinen Kontakt mehr zu Ihm. Er trat mal kurz nach der Wende bei meiner Tante auf, als ich gerade zu Besuch bei ihr war, weil ich zu dem Zeitpunkt im Kinderheim lebte. Dann war lange Ruhe. 2000 traf ich ihn kurz auf dem Dresdner Hauptbahnhof. Dann war er weg, angeblich soll er in Frankreich an Krebs gestorben sein.

Ich muss ehrlich sein, ich vermisse Ihn nicht. Warum auch? Ich hatte nie wirklich einen Bezug zu ihm. Traurig eigentlich. Ich bin doch seine Tochter. Meine Mutter hat das alles damals gar nicht verkraftet. Plötzlich mit mir allein, dazu die Arbeit und der Haushalt.

Sie fiel in ein Loch, hatte zu nichts mehr Lust, fing an zu trinken, saß immer in der Kneipe und vergass mich ganz. Sie bleib auch tagelang, ja sogar ganze Wochen einfach weg und ich war allein. Aus Angst, dass jemand etwas mitbekommt, habe ich mich niemanden anvertraut. Es flog auf, weil die Schwester meiner Mutter, diese nicht erreichte. Ja, ich war allein, habe gekämpft und dennoch verloren. Jeden Morgen ging ich fleißig zur Schule.

Es war ein Freitag, das weiß ich noch ganz genau, da klopfte es an die Tür des Kunsterziehungszimmers in der Schule: Es waren eine Frau und ein Mann. Sie wollten zu mir. Ich kannte Sie nicht. Sie meinten:“ Wir bringen Dich jetzt ins Kinderheim.“ Für mich brach eine Welt zusammen,die ja eh schon kaputt war. Heulend habe ich meine Klasse verlassen und sie nie wieder gesehen. Ich sah meine Mutter dann das erste Mal 1991 wieder. Sie wollte mich haben, aber ich sie nicht.

Wer war diese Frau, die meine Kindheit so zerstört hat? Mutter? Nein, so nenne ich Sie nicht. Auch nicht als sie letztes Jahr bei mir zu Weihnachten am Kaffeetisch saß. Wir hatten die letzten ca. fünf Jahre immer mal wieder telefonischen Kontakt. Sie kann mir auch nicht sagen, warum, wieso, weshalb das alles. Ich war ein paar Jahre im Heim. Es war nicht schlimm, es waren alle nett, auch wenn ich paar mal das Weite gesucht habe und mit dem Bus quer durch Dresden bin. Es wurde alles so gefeiert, wie wir es auch kennen, in Familien, eben nur alles mit Kindern. Ich war aber trotzdem froh, als es eines Tages hieß, ich darf raus,meine Tante nimmt mich auf (Schwester meiner Mutter).

Tja, ab dem Tag war ich da zu Hause und hatte plötzlich zwei größere Schwestern. Mir ging es da gut. Ich bin meiner Tante sehr dankbar dafür, dass ich später noch die Möglichkeit hatte in Familie aufzuwachsen. Meine Fünf sagen auch alle Oma zu ihr. Vielleicht ist da auch ein Grund,warum ich so zu meinen Kindern bin,wie ich bin und wir, mein Mann und ich alles möglich machen was nur geht. Meine Kinder wissen aus meiner traurigen Kindheit fast alles, die Kleineren verstehen es nicht, aber die drei Großen schon.

Manchmal rutscht mir auch mal etwas raus, das nicht so gemeint ist wie zum Beispiel: „In Deinem Alter hab ich mir meine Nudeln selber gekocht“. Wenn die Frage kommt, wann es den was zu Essen gebe. Im Nachhinein tat es mir auch wieder leid und ich dachte mir: Ach sollen sie noch etwas Kind sein dürfen,wenn Du es schon nicht sein konntest.

Du hast einen Alltag mit fünf Kindern. Was glaubst Du ist, der größte Unterschied zur Kleinfamilie? 

Kind 1 mit Kind 5

Ich glaub der größte Unterschied zur Kleinfamilie, ist das Waschverhalten der Waschmaschine. Nein, Spaß bei Seite, bei der Kleinfamilie ist es relaxter würde ich meinen. Man muss zwar auch einiges organisieren usw., aber man muss vielleicht nur drei oder vier Personen unter einen Hut bekommen.
Jetzt im Moment fahren wir nur von Arzt zu Arzt: Es stehen U-Untersuchungen an, Zahnarztbesuche, Elternabende usw. Das ist alles gar nicht so einfach, manchmal sind wir wochenlang nach der Arbeit mit den Kindern unterwegs zu Terminen.

Mein Mann und ich gehen beide arbeiten, er hat eine 40h/Woche und ich habe meine 30h/Woche nach einem Jahr auf 40h/Woche erhöhen lassen. Es ist anstrengend, aber wir haben uns hier alle organisiert und jeder hat so seine kleinen Aufgaben täglich. Die Größeren haben nun auch gelernt, dass man nicht nur gegeneinander arbeiten muss, sondern lernen nun auch zusammen und machen Hausaufgaben. Sie schließen sich zusammen, wenn es darum geht, wer mal schnell in den Laden flitzt und eben noch fix das Eine oder Andere besorgt. Sie haben auch gelernt, dass ich beim Heimkommen, doch erst mal meine paar Minuten Auszeit brauche und einen großen Kaffee genießen mag.

Was gefällt Dir am Leben als Großfamilie am Besten? 

Marathon-Kekse-Backen zur Weihnachtszeit. 

Das Leben in einer Großfamilie ist einfach toll: Bei uns hilft hier jeder jedem, mal mehr oder weniger. Am schönsten sind für mich Feste wie Ostern, Geburtstage und Weihnachten,wie sich jeder mit dem anderen freut, was er bekommen hat und eigentlich fast keiner meckert, wenn mal der eine was Größeres bekommt.

Bei uns ist das so geregelt, dass jedes Kind zum Geburtstag oder Weihnachten mal (Jahr um Jahr) etwas Größeres bekommt, als der Rest der vier Kinder. Für mich, als Mutter mit schlechter Kindheit, haben gerade diese Tage eine große Bedeutung und ich mache viel möglich, um den Kindern alles zu geben, was nur geht. Manchmal ist es aber eben knapp und da kann es kein neues Smartphone sein, sondern nur ein gebrauchtes, was ich mit Hilfe einer Twitterfreundin bekommen habe.  Da unterstützen uns auch einige hinter den Kulissen.

Wer unterstützt Dich im Alltag?

Unterstützung bekommen wir nicht wirklich viel. Ich habe ja keine Eltern mehr, vom Gatten sind die Eltern geschieden und haben jeweils neue Partner. Wer aber immer da ist, wenn es möglich ist, ist die Mutter meines Gatten. Das ist eine ganz Knuffige und ohne sie würden wir manchen Kita-Streik oder Krankheit der Kinder nicht überstehen.

Sie nimmt uns viel ab, wenn es Ihr Kalender zulässt. Auch als Rentnerin (65) hat man so seine Termine bei der Fußpflege, Friseur und solche Dinge. Diese werden auch gern mal für die Enkel umgeschrieben. Heute erst stand sie vor der Tür und hat Kind 4 plötzlich zum „Parkeisenbahn fahren“ abgeholt, einfach so. Manchmal wünschte ich mir schon etwas mehr an Unterstützung aus der Familie, bei uns gibt es leider auch welche, die nur anrufen, wenn sie etwas wollen. Das stimmt mich sehr oft traurig. Es gibt auch Familienmitglieder, die einfach mal Geburtstage der Kinder vergessen und es geht ja nicht immer um Geschenke, sondern der Anruf, oder die Karte zählt, also der Gedanke.

Was funktioniert bei Euch als Großfamilie so gut, dass Du Dich zu einem Tipp für andere Eltern hinreißen lassen könntest?

Einen Tipp an andere Eltern von uns als Großfamilie hab ich eigentlich nicht, außer: „Liebe Eltern, schließt Eure Lieblingschoki ein, kommt Ihr nach Hause, könnte sie weg sein“. Wir sind so, wie wir sind. Wir wachsen mit unseren Aufgaben und das Tag für Tag. Es darf auch gern mal Chaos zu Hause sein. Wem es nicht gefällt, für den hat der Maurer ein Loch gelassen: Das nennt sich Tür.

Danke für die Antworten und die Bilder, Viktoria. 

Nächste Woche in den Familienrollen: Helge berichtet von seinen Sternenkindern und dem unerfüllten Kinderwunsch. 

Ihr habt auch eine außergewöhnliche Familiengeschichte? Oder eine Idee, welches Thema unbedingt mal in den Familienrollen vorkommen sollte? Dann schreibt mir eine Mal an fruehesvogerl@gmail.com. 

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