Kultur mit Kind, Meinung, Nachgefragt

Aus übervollen Herzeimern / v. Gastautorin Mara Braun über Familie, die nicht nur aus eigenen Kindern besteht

Andere Blickwinkel: Mara Braun schreibt, was für sie Familie ist, warum dort das Wörtchen halb nicht gilt und welcher Lebensmoment in der „Schatulle ihres Seele“ seinen Platz gefunden hat. 

Die Neffen. 

Kurz vor meinem zehnten Geburtstag machte mich meine große Schwester zum ersten Mal zur Tante. „Halbtante“, korrigierten mich einige Hobby-Familienologen damals mahnend, wenn ich die wundervolle Neuigkeit freudestrahlend erzählte. Ich konnte diesem Wort mit neun Jahren ebenso wenig abgewinnen wie heute. Auch wenn mich mit zwei meiner drei Geschwister bloß ein Elternteil verbindet, liebe ich sie doch alle von ganzem Herzen. Halb, das waren bei uns zu Hause nur die Hähnchen, die mein Vater so gerne gegessen hat.

Dreieinhalb Jahre nach dem ersten Neffen kam meine große Nichte zur Welt. Während der Neffe mit den blonden Wuschellocken aussieht, wie mein längst erglatzter Bruder als kleiner Junge, schlägt meine Nichte komplett nach ihrer Mutter und, wie diese, auch ein wenig nach der Schwester meines Paps’. Wenn ich die beiden heute anschaue, bin ich ganz erfüllt davon, was für großartige Menschen aus den kleinen Dötzen von damals geworden sind. Und immer fällt mir der Nachmittag ein, an dem meine Nichte mir mit kleinen Kinderfingern lauter Zöpfe in die Haare geflochten hat, oder der gemeinsame Urlaub, in dem Jahr als mein Vater starb.

Mit Ende zwanzig wurde ich zum dritten Mal Tante, und den Moment, in dem ich zu meiner kleinen Schwester und dem Zauberneffen in den Kreißsaal gestolpert bin, glühend von der Hitze des frühen Sommers, sprachlos im Angesicht des Zwergs, hüte ich in einer Schatulle meiner Seele, in der nur wenige Lebensmomente Platz finden. Meine Schwester mit ihrem Kind zu sehen, das pustet mir eine Ruhe und ein Glück ins Herz, dass ich manchmal ganz andächtig werden könnte davon. Der Zauberneffe und ich wurden früh ein Team, und als er eine Zaubernichte als Geschwisterchen bekam, nahm ich die zunächst kaum wahr.

Ohnehin konzentrierte sich sonst alles auf das Baby

Nichtenzopf.

Da war kein böser Gedanke dabei, und ohnehin konzentrierte sich sonst alles auf das Baby. Doch eines Besuchstages ließ mir meine Schwester die Kleine in den Schoß fallen mit den Worten: „Ich habe übrigens zwei Kinder!“ Die Zaubernichte strahlte mich aus ihren großen Augen an, steckte mir einen Finger in die Nase – und ab da waren alle vier Nichtenneffen in meinem Herzen angekommen. Und den meisten Spaß habe ich, wenn die Großen und die Kleinen aufeinandertreffen, was zum Beispiel bei Fußballspielen häufiger der Fall ist.

Weil der kleine Neffe auch mein Patenkind ist, machen wir regelmäßig Tantentage. Ich würde das gerne einmal im Monat schaffen, doch es klappt nicht immer, und quasi zum Ausgleich besucht er mich in den Ferien dafür gleich ein paar Tage. Inzwischen möchte seine Schwester immer mit zu den Ausflügen, und ich und die meine versuchen, ein gutes Gleichgewicht zu finden: Ihm seine Zeit mit mir nicht wegnehmen, sie aber gleichzeitig nicht ausschließen. Ein gutes Mittel dafür ist, ihn vor die Wahl zu stellen, ob die Zwergin mitdarf. Er ziert sich dann zwar schrecklich, eigentlich liebt er seine Schwester aber sehr, und so sagt er oft genug ja.

„Wann sind sie endlich da-ha?“ Jetzt. Wunderschön.

Diese Sommerferien hielten für uns drei eine Neuerung bereit, zum ersten Mal waren beide Kinder für mehrere Tage im Tantenurlaub. Bislang war entweder der Zauberneffe länger da, oder es waren beide Zwerge hier, dann aber nur für eine Nacht. Große Aufregung also auch an allen Fronten, und ein bisschen Bewunderung und sehr viel Glück bei mir, darüber, dass meine Schwester mir die Dötze so anvertraut.

Der erste Tag bot gleich genügend Highlights für jede Menge Schluckauf, angefangen mit dem Sommerfest von Mainz 05 in der Stadt. Dorthin begleitete uns der NummerEinsNeffe, ebenfalls Grund für strahlende Begeisterung. Plötzlich hatte ich ganz viel Platz auf meiner Bierbank, weil beide Zwerge lieber neben oder noch besser auf ihrem Cousin sitzen wollten. Später dann Abendessen mit dem Herzmann und seiner Tochter, in den Stunden zuvor bloß ein Satz, stereo und in Dauerschleife: „Wann sind sie endlich da-ha?“ Jetzt. Wunderschön.

Völlig aus dem Nichts dann ein akuter Anfall von Heimweh bei der Zwergin, die sich erstmal gar nicht beruhigen lassen möchte. Hoch und runter schaukelt die Bettdecke vom Schluchzen der Vergrabenen, bis ich sie vorsichtig ausgewühlt habe und ihr einen abgegriffenen Hund aus Plüsch hinhalte, der trägt eine gelbe Weste. „Den habe ich von meinem Paps’ bekommen, als ich klein war. Deine Mama hat denselben. Wenn wir früher Heimweh hatten, hat er immer auf uns aufgepasst.“ Die kleinen Wasserstrahler versiegen und nun schläft auch der Hund mit uns im Bett, das wir zu viert bevölkern. Es sei denn, eines der Kinder fällt gerade raus, was jede Nacht mindestens einmal passiert, aber nicht immer werden sie wach dabei.

Wir drehen uns wild auf dem Kinderkarussell

Mädchenzeit.

In den kommenden Tagen schauen wir Madagaskar und Ab durch die Hecke (bei Regen), wir frühstücken erst unser Schüsselchen Müsli auf dem Sofa und später Brötchen am Tisch. Dafür haben die Zwerge ein Glas Nutella im Gepäck, weil es sowas bei mir nicht gibt: Nussallergie. Wir besuchen einen Tierpark, füttern die Ziegen und flüchten vor den Wespen, wir drehen uns wild auf dem Kinderkarussell, essen Unmengen Eis, spielen Uno und die Dötze zocken mich beim Kinder-Monopoly ab. Ich lese vor, wir lesen gemeinsam, gehen in die Ritterausstellung im Museum und auf einen Indoorspielplatz. Zwischen zwei Stationen singt die Zaubernichte auf der Rückbank Lieder mit, die im Radio laufen („Mara, bitte schalte youFM an!“), als ich plötzlich den Text wahrnehme: „Sis sonks gonna hurt laika massafakka.“

Im Stadion. 

Als ich mich mit großen Augen zu den beiden rumdrehe, sagt ihr Bruder grinsend: „Sie weiß aber noch nicht, was das heißt.“ Keine zwei Minuten später verkündet die Zwergin: „Also entschuldige, das ist doch fuck!“ Ich beiße mir auf die Lippen und erkläre ihr, dass man das Wort nicht benutzen darf. Auch wenn es mir manchmal rausrutscht. Ihr Bruder nickt und sagt: „Aber nur beim Auto fahren und im Stadion.“ Damn. Apropos Stadion, dort sind wir natürlich auch noch, und beim Freundschaftsspiel gegen Lazio Rom hat der Zauberneffe seinen großen Auftritt, denn das Losglück war ihm endlich hold und er darf mit der Mannschaft einlaufen.

Wir gewinnen das Spiel, die Dötze reisen mit ihren Eltern ab und ich lege mich 24 Stunden schlafen. Am nächsten Tag renoviere ich meine Wohnung. Ich liebe die zwei, aber am aller meisten liebe ich meine Ordnung, und am Ende putze ich sogar die Fenster, einfach nur so. Danach funke ich den großen Neffen an, um ihm zu sagen, wie schön es war, ihn zu sehen.

Stille in der Leitung

Vor einer Weile hat mich eine potentielle Kundin am Telefon gefragt, wie viele Kinder ich hätte. Als ich, etwas irritiert über die Frage, antwortete: „Ich habe keine Kinder“, war kurz Stille in der Leitung. Dann sagte sie, in meinem Profil stünde, ich sei ein „Familienmensch“, und das empfinde sie „unter diesen Umständen als grob irreführend“. Entsprechend habe sie an einer etwaigen Zusammenarbeit auch keinerlei Interesse mehr. Anschließend legte sie so schnell auf, dass ich gar nicht mehr sagen konnte: „Ich auch nicht.“

Tower of Love

Alternativ hätte ich sie an Leute weitervermitteln können, die von halben Geschwistern oder Tanten reden, ich nehme an, sie hätten sich etwas zu sagen gehabt… Ich habe mich nie damit anfreunden können, den Begriff Familie auf diese Art und Weise einzuschränken und welche Menschen ich als meine persönliche Familie empfinde, bestimme ich glücklicherweise selbst. Gäbe es also nur ein Wort, das ich benutzen dürfte, um meine Werte zu beschreiben, wäre es genau das: Familie. Und sollte ich mich selbst in Beziehung zu diesem Wert setzen, wäre der Begriff, den ich benutzen würde: beschenkt. Aus übervollen Herzeimern.

Dieser Text ist Teil der Gastblogger-Beiträge zum Geburtstagsmonat August. Mara Braun betreibt den Blog Wortpiratin, bezaubert mit ihren Wort und hat auch schon ein paar Bücher geschrieben. „111 Gründe an die Liebe zu glauben“ hab ich auch schon rezensiert.

Alle Bildrechte liegen bei Mara.

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