Familienrollen

Synästhesie: „Selbst ein Knacken in der Heizung ist für mich visuell wahrnehmbar.“

Was bedeutet eigentlich in Farben sehen? Julia erzählt in den wöchentlich Familienrollen, was Synästhesie für sie bedeutet und in welchen Bereich sie ihr besonders hilft.

 

Zahlen haben für Dich Farben, hast Du mal gesagt. „Synästhesie ist eine Normavariante der Wahrnehmung“, sagt Wikipedia. Und in Wahrheit habe ich keine Ahnung. Beschreib doch mal, was das wirklich bedeutet.

Es gibt etliche Varianten der Synästhesie. Konkret habe ich die „Wort-Farb-Synästhesie“, die „Sequenz-Raum-Synästhesie“ sowie die „Musik-Farben-Synästhesie“, letztere allerdings etwas weniger stark ausgeprägt. Was das alles heißt? Die „Wort-Farb“-Variante besagt, dass ich Buchstaben und Zahlen in Farben sehe, wobei jeweils eine Zahl eine feste, unveränderbare Farbe hat. Für Buchstaben gilt das auch, allerdings zieht sich die Farbe des ersten Buchstabens immer über das ganze Wort. „Bettina“ ist also in einem schönen Erdbeerrot geschrieben, also vor meinem inneren Auge.

 

Die „Sequenz-Raum“-Variante meint, dass ich eine bestimmte visuelle Vorstellung von Tagen, Monaten und Jahren habe, konkret: Jeder Tag hat für mich eine bestimmte Form (und auch eine Farbe); der Montag ist z.B. kreisrund und sonnengelb.

 

Und die „Musik-Farben“-Synästhesie lässt mich Formen sehen, wenn ich Töne höre – selbst ein Knacken in der Heizung ist für mich visuell wahrnehmbar. Es ist also richtig schön bunt in meinem Kopf – mit Betonung auf „in meinem Kopf“, denn: wenn ich ein Blatt mit schwarzer Schrift oder Zahlen sehe, so sind die für mich natürlich auch als schwarz erkennbar. Aber sobald jemand das Wort „fünf“ sagt, sehe ich vor meinem inneren Auge eine 5, und die ist dann eben erdbeerrot gefärbt.

 

Synästhesie tritt „in Familien gehäuft auf“: Wer ist bei Euch betroffen, und vor allem: Wie habt Ihr das rausgefunden? 

 

Julia als Kind mit VaterSynästhesie wird vererbt, ich habe es von meinem Vater. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich ungefähr in der 1. Klasse war – auf jeden Fall konnte ich schon die Wochentage aufsagen – in der ich meinen Vater gefragt habe, welche Farbe sein Dienstag hat. Woraufhin er mir seine Wochentage aufgemalt hat. Dass es sich dabei um Synästhesie handelte, wusste er nicht; ich habe es herausgefunden, als ich während eines Praktikums nach dem Abitur einen Artikel zu dem Thema schreiben sollte. Erstaunt habe ich aufgeschaut und in die Redaktion gefragt: „Wie jetzt, bei euch haben Wochentage, Zahlen und Buchstaben keine Farbe?!“

 

Es ist kein Thema, das ich an die große Glocke hänge – gleichzeitig bin ich ein bisschen stolz darauf, so einen farbenfreudigen Kopf zu besitzen!

 

Bisher habe ich übrigens nur zwei Menschen persönlich kennengelernt, die auch Synästhetiker sind, dieser „special effect“ ist ziemlich selten.

 

 

Diese Besonderheit verbindet die Menschen, oder wie hast Du das zwischen Dir und Deinem Vater wahrgenommen? 
Stifte

 

Ja, Synästhesie verbindet. Allerdings, wie erwähnt, findet man eher zufällig Menschen im Umkreis, die das auch haben. Doch es gibt eine lustige Facebook-Gruppe (I’m not a freak, I’m a synesthete), in der sich weltweit Synästhetiker über ihre verschiedenen Formen austauschen, auch da ist jeder anders.

 

Oft kommt es auch zu – mit einem Augenzwinkern – gemeinten Streits über die Farbe der Zahlen: „Die 4 ist eindeutig gelb, wie kannst du sagen, dass sie dunkelblau ist?!“.

 

Meinen Vater und mich hat es auf jeden Fall verbunden, auch wenn wir ja nicht wussten, dass es etwas Unübliches ist. Wir haben also meine Mutter und meinen Bruder dadurch nicht ausgegrenzt.

 

Synästhesie ist eine wundervolle Verknüpfung im Gehirn, die mein Leben auf jeden Fall um einiges bunter macht und da sie keinerlei negative Auswirkungen hat – na gut, mit komplexen Musikstücken bin ich oft aufgrund der vielen Formen, die entstehen, überfordert – wäre es natürlich auch für meine Kinder eine schöne Sache. Wir könnten dann gemeinsam unsere Zahlen mit Buntstiften malen…

 

Du bist Journalistin. Yoga-Lehrerin und machst grad eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin: Kannst Du durch in diesen Berufen durch Deine Besonderheit profitieren?

Ich behaupte mal, dass alle meine drei Berufe eine kreative Basis haben und die Synästhesie hilft mir auf jeden Fall dabei, wenn auch nicht so offensichtlich spürbar. Farben und Formen und ihre Bedeutung und Wirkung auf unsere Stimmung haben für mich schon immer eine große Rolle gespielt, als Kunsttherapeutin beschäftige ich mich nun wieder stärker damit. Und meine Arbeit als Journalistin ist ziemlich sicher davon beeinflusst, für mich haben Worte ja auch Eigenschaften und sind sympathisch oder nicht; Worte mit hässlicher Farbe sind mir unangenehm, die nutze ich auch seltener und greife dafür auf schön gefärbte Begriffe zurück.

 

Außerdem, und da wären wir beim Yoga, kann ich mir durch die Farbigkeit der Buchstaben leichter Wörter merken – bezüglich der ellenlangen Sanskrit-Begriffe, die ich in der Ausbildung lernen musste, war das sehr hilfreich.

 

Was würdest Du anderen mit auf den Weg geben, die die Synästhesie grad an sich oder ihren Kindern entdecken und noch unsicher sind? 

Herzlichen Glückwunsch! Synästhesie ist eine wunderbare Sache und – auch wenn sie oft als „falsche Verknüpfung im Gehirn“ bezeichnet wird – auf keinen Fall etwas Negatives!

 

Es gibt wie gesagt viele Gruppen, in denen man sich austauschen kann; ansonsten: nutze deine Kreativität, die diese unübliche Kopplung deiner Gehirnareale mit sich bringt!

 

Vielen lieben Dank für das Interview, Julia. 

 

Julia bloggt seit 2008 auf Fräulein Julia: Nicht nur weil sie eine meiner liebsten Freundinnen ist, lege ich Euch den Besuch ihres Blogs nahe.

 

Ihr habt ein Thema, das ihr gerne mal in den Familienrollen lesen würdet, oder eine Familiengeschichte, die ihr mir gerne erzählen würdet? Dann schreibt mir eine Mail an fruehesvogerl@gmail.com.

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