Alltag, Familienrollen

Down-Syndrom: „Ich bin froh, dass ich es nicht früher wusste, denn ich hätte mich verrückt gemacht, alles gelesen und doch nichts gewusst.“

Am Donnerstag gibt es die Familienrollen: Heute erzählt Martina vom Leben mit ihrer Familie: Martina hat zwei Töchter, eine davon wurde mit dem Down-Syndrom geboren, wie sich das Leben entschleunigt und was Martina gelernt hat, davon berichtet sie. 

 

Du bist Mutter zweier Töchter, Deine kleine Tochter Jolina hat das Down-Syndrom: Deinen Blog hab ich dadurch kennengelernt, dass Du geschrieben hast, dass das Leben mit dem Down-Syndrom nicht so schlimm ist, wie oft manche glauben: Was genau meinst Du damit?

Als Außenstehender sieht man meist Dinge die anders sind als im eigenen Leben, oft kann man sich das für sich gar nicht vorstellen und glaubt es müsse ja ein schreckliches Leben sein.

Kleines Beispiel: Jolina lernt sehr langsam, sie spricht sehr schlecht und lernt jetzt mit 9 gerade mal das Zählen bis 20 und auch beim Lesen geht es gaaaanz langsam voran. Das erscheint auf den ersten Blick als ziemlich anstrengend und frustrierend.

Ganz ehrlich? Das wäre vor 10 Jahren auch eine Horrorvorstellung gewesen.

 

 

Durch das Leben mit meiner behinderten Tochter habe ich gelernt, das zu schätzen was sie erreicht, vollkommen ohne Ziele wie weit sie kommen muss. Die Freude über jedes gelesene Wort ist wie ein kleines Weihnachten. Oft erwartet man Fortschritte seines Kindes als selbstverständlich und der Zauber des Augenblicks fehlt.

Natürlich macht man sich Sorgen, Eltern machen sich ständig Sorgen, doch das Glück überwiegt.

 

Die Abtreibungsrate liegt bei Down-Syndrom geschätzt zwischen 90-95%, Grund ist die Schwarzmalerei von Ärzten, die nur die Defizite aufzählen und diese alten überholten Bilder im Kopf, dabei haben Menschen mit Down-Syndrom Stärken, die enorm sind. Die gut geförderte Generation, die gerade erwachsen wird. kann dies demnächst zeigen, wenn es nicht schon zu spät ist.

Diese über 90% müssen doch eine Horrorvorstellung von dieser Behinderung haben, dass sie oft Wunschkinder lieber als „Sternenkind“ betrauert, als sie anzunehmen als Kind, das ist wie es eben ist.
Für kein Kind gibt es Garantien, dass es unseren Vorstellungen entspricht und jedes Kind, egal wie viele Chromosomen kostet Zeit, Nerven, Tränen, Geld und die meisten Eltern werden sagen, dass das Glück dieses Kind zu haben alles aufwiegt, das sagen auch Eltern behinderter Kinder, vielleicht sagen die das sogar öfter als andere, weil Glück eine andere Dimension bekommen hat.

 

 

Wusstest Du bereits im Vorfeld, dass Deine Tochter mit dem Down-Syndrom zur Welt kommt und wie habt Ihr Euch darauf vorbereitet?

 

Unsere Geschichte ist etwas schräg und dauert länger sie zu erzählen, das habe ich im Blog getan und zwar in drei Blogposts, weil sie wirklich lang und ungewöhnlich ist.

Sagen wir so, es gab zwei Fruchtwasseruntersuchungstermine, die nicht stattfinden konnten, zum Glück.
Es gab Softmarker, die keiner der Ärzte beachtet hat, bis kurz vor der Geburt einer genau schaute.

Ich ahnte es deshalb zwei Wochen vor der Geburt und teilte dann dem Arzt mit, dass meine Tochter das Down- Syndrom hat und nicht er mir.

Ich bin froh, dass ich es nicht früher wusste, denn ich hätte mich verrückt gemacht, alles gelesen und doch nichts gewusst. Diese 14 Tage waren schon mit Dauergoogeln ausgefüllt.

Jeder Mensch mit Down-Syndrom ist anders, die Diagnose alleine hilft nicht viel und du weißt nie welche Besonderheiten, die dieser Chromosomenüberschuss haben kann, dein Kind betreffen.

 

Eines kann ich jetzt hier schreiben, was ich in meinem Blog nicht kann.

Als ich vor den geplanten Fruchtwasseruntersuchungen bei meiner Schwiegermutter die Aussage machte „Down Syndrom wäre kein Grund zur Abtreibung“ war die Antwort: „Das kannst Du nicht machen, schließlich hast Du noch ein anderes Kind an das Du denken musst!“ Ich habe es ihr nie vergessen.

 

Auf Deinem Blog schreibst Du, dass Deine Tochter Jolina Euer Leben entschleunigt hat: Kannst Du das an einem Beispiel benennen?

Die heutige Menschheit krankt daran, dass alles so schnelllebig ist. Es muss immer mehr sein, oder besser und schneller. Gutes Beispiel ist der Mütterwettkampf „Mein Kind kann schon….“.

Es ist nicht so, dass ich keine Ziele und Wünsche für mein Kind hätte, aber die sind recht entspannt.
Ich wünsche mir, dass Jolina mal gut lesen kann, um zum Beispiel eine Speisekarte lesen zu können und, dass sie soweit rechnen kann, dass sie nicht versucht mit 10 Euro in der Tasche einen Einkauf von 50 Euro zu tätigen.

Das ist das Ziel, wann sie das erreicht ist egal, irgendwann wird sie ankommen, in ihrem Tempo.

 

Genau das haben wir für uns übernommen, wir leben viel mehr im Jetzt und genießen den Augenblick, als von Übermorgen zu träumen. Ein langsames Leben lässt Zeit für den Blick auf Kleinigkeiten, die man beim schnellen Vorübereilen gar nicht bemerkt.

Meine Große war ja so ein Turboentwickler, da habe ich Entwicklungsschritte gar nicht mitbekommen, weil ich vielleicht mal kurz in der Küche war, Jolina hat das schon bis zum Extrem gedehnt.

Wie im Lehrbuch hat sie jeden Zwischenschritt durchlaufen, den man zum Laufen lernen macht. Und als wir dachten, das geht nie weiter, da auf dem Stand bleibt sie wohl auf ewig stehen, dann ging es meist weiter.
Ich bin eigentlich ein sehr ungeduldiger Mensch, das hat ganz schön Tempo bei mir raus genommen.

Aktuell bist Du nur nebenberuflich berufstätig: Warum habt Ihr Euch dafür entschieden?

Ich bin gerne Mutter, auch wenn es manchmal nervt. Mit „Produktion“ von Kind 2 habe ich mich dann auch gewaltig unter Druck gesetzt, denn ich hatte keinen Plan B. Ich hatte schon nach 2 Jahren in Elternzeit beschlossen, dass es für mich nicht funktionieren würde an 2 Fronten zu kämpfen. So habe ich nachdem ich zwei mal 3 volle Jahre zu Hause war meinen Job als Banker gekündigt, 3 Monate vor meiner 25 jährigen Betriebszugehörigkeit.

 

Meine silberne Nadel des Genossenschaftsverbandes habe ich deshalb genau nicht erhalten, doch es gibt wirklich Schlimmeres.
Ich wusste was mein Arbeitgeber an Einsatz verlangt, den hätte ich nur mit Einbußen für die Familie leisten können.

Sagen wir mal so, früher war mein Luxus durch meinen Beruf 1 mal im Jahr 3 Wochen auf die Malediven zu reisen und zusätzlich 3 Wochen in die Karibik, heute ist mein Luxus nicht zu arbeiten und mich als Mutter und Bloggerin auszuleben, dafür waren wir auch mal in der Jugendherberge in der Eifel in Urlaub, was ich keinem über 40 empfehlen kann, Rücken usw…..

Ich habe die Entscheidung nicht eine Sekunde bereut. (Also nicht die mit dem Eifelurlaub, die zu Hause zu bleiben)

Auf dem Blog ist Deine große Tochter nicht so zentral: Spielt die Tatsache, dass ihre kleine Schwester das Down-Syndrom hat, eine große Rolle in ihrem Leben, oder ist das eher ein Aspekt unter vielen?

Ursprünglich war der Wunsch anderen Eltern zu zeigen, dass Down-Syndrom eigentlich ein total normales Familienleben zulässt, im Laufe der Jahre änderte sich der Blog. Klar, man schreibt über das was man gut kann und inzwischen bin ich zum Fachmann für Down-Syndrom geworden, bei einer 12 jährigen in der Pubertät bin ich genau so ratlos wie alle anderen Mütter in der Lage auch.

Trotzdem hat auch Louisa einen festen Platz im Blog, zum Beispiel als mein Lieblingsmodell, sie kann auf Kommando lächeln und gibt sogar inzwischen mir Anweisungen was heute so angesagt ist.

 

Sie tobt sich eher auf ihrem YouTubeKanal aus, den ich ihr erlaubt habe, wenn ich den Daumen drauf habe, das heißt, ich habe nicht nur einen Blog, sondern betreue ach noch den recht erfolgreichen Videokanal meiner Tochter, die das jetzt ganz langsam lernt, anstatt mit 16 in diesen Sumpf zu stolpern und sich auszuliefern.
Sie ist reifer durch die Behinderung ihrer Schwester und sie kämpft für sie wie eine Löwin, fährt anderen über den Mund die „Ey das ist ja voll behindert…“ benutzen und macht Videos, dass es ganz normal ist eine Schwester mit Down-Syndrom zu haben.

Doch sind wir mal ehrlich, so sehr sie ihre Schwester liebt wünscht sie dieses blöde Zusatzchromosom manchmal zur Hölle.

Was wünscht Du Dir im Umgang mit Jolina?

Ich wünsche mir einfach Normalität und weniger Berührungsängste. Ich tue dafür schon alles was ich kann. Man darf mich alles fragen, ich gehe an die Öffentlichkeit, ich zeige, dass anders sein normal ist. Unsicherheit kommt einfach aus dem mangelnden Umgang mit Behinderten.

Das ging mir genau so, ich schaute lieber weg, anstatt etwas falsch zu machen.
Jolinas Behinderung hat mich geöffnet, ich sagte mal zu einem Mädchen im Rollstuhl: „Hey, was hast du für coole Bilder da auf deinen Rädern, wow!“ Der Mutter sah man ihr Erstaunen und Freude über diesen normalen Umgang so an, sie leuchtete von innen.

Ich leuchte auch, wenn jemand Jolina so nimmt wie sie ist. Helfen kann hier nur die Inklusion, dass Kinder schon in Kindergarten und Schule lernen, dass es auch Menschen gibt, die eine Beeinträchtigung haben, so wie es blonde und dunkle gibt, Mädchen und Jungs. Jeder ist wie er ist.

Ich wünsche mir, dass die Menschen in Jolina eben das Mädchen Jolina sehen, nicht das Kind mit dem Down Syndrom.

 

Was wünscht Du Dir für die Zukunft Deiner Töchter?

 

Für beide wünsche ich mir einfach, dass diese Welt ein bisschen friedllicher wird und weniger egoistisch.
Ich wünsche mir, dass sie glücklich werden, jede auf ihre Art.

Für Louisa wünsche ich mir, dass sie ihre Träume verwirklichen kann, oder wenigstens ein paar davon.
Die Berufswünsche schwanken zwischen Tanzpädagogin, die auch mit behinderten Kindern arbeitet und Hauptberuflichem YouTuber *hüstel*

Für Jolina wünsche ich mir, dass sie ein eigenständiges Leben führen kann, dass sie nicht in ein Leben gedrängt wird das sie nicht will. Wir werden nicht ewig leben und für sie da sein können, ich muss darauf vertrauen, dass es Menschen geben wird, de es gut mit ihr meinen.

Ich wünsche mir, dass meine Töchter ein ewiges Band verbindet und sie immer füreinander da sein werden, ohne den Druck einer Verpflichtung, sondern aus Liebe.

 

Vielen lieben Dank, Martina.

Hier geht es zu Martinas Blog.

 

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