Alltag, Familienrollen, Nachgefragt

Mutter in Hamburg, Kinder in London: „Ja, ich vermisse sie mitunter wie Hölle.“

Nina (38) lebt in Hamburg. Ihre Kinder leben mit dem Vater in London, was das beim möglichen Brexit bedeutet und welche Fragen sie nicht mehr hören kann, das erzählt sie in den Familienrollen.

Dein Mann ist alleinerziehend. Du lebst in Hamburg, er in London: Wie funktioniert das für Euch Vier im Alltag?

Mein Noch-Mann und ich sind seit sechs Jahren getrennt – im Vorlauf dazu haben unsere Söhne (jetzt 8 und 10,5 Jahre) leider etliche Streits miterleben müssen. Auch in den Jahren nach der Trennung ist es uns nicht immer gelungen, die Contenance zu bewahren. Von daher waren wir beide überzeugt davon, dass es für die Kinder besser ist, nicht in einer Familie mit Dauerspannungen aufzuwachsen.

Im Alltag gestaltet sich das so, dass M. die meiste Zeit allein für die Jungs verantwortlich ist. Als Langschläfer fällt es ihm besonders schwer, sie morgens in die Schule zu verfrachten; sie sind zwar meist pünktlich, aber hin und wieder müssen sie auch mal etwas eiliger gehen… Wenn ich in London bin, lebe ich im Haus meines Ex-Mannes und meiner Kinder, leider ohne eigenes Zimmer. Dann übernehme ich es sehr gern, die Kinder in die Schule zu bringen und abzuholen, und M. kann auch mal ausschlafen oder frei seiner eigenen Tagesgestaltung nachgehen, ohne auf die Uhr sehen zu müssen.

Außerdem ist er kein begeisterter Koch. Zum Glück bekommen meine Kinder in der Schule warmes Mittagessen (in England geht auch die Grundschule bis 15 Uhr), abends wird oft eher etwas warm gemacht als wirklich gekocht. Wenn ich bei den Kids bin, genießen sie es sehr, dass ich für sie und auch mit ihnen koche. Auf diese Weise bekomme ich sicherlich mehr Dankbarkeit zurück, als wenn ich täglich versuchen würde, meinen Kindern gesundes Essen vorzusetzen…!

Beim Umzug nach England waren die Jungs nicht ganz 3 Jahre bzw. 5,5 Jahre. Unser älterer Sohn konnte schon ein bisschen Englisch (auch aus den Urlauben in England vorher), und dank seines sehr kommunikativen und extrovertierten Wesens konnte er sich schon bald flüssig verständigen. In der Vorschule (die in UK ab 5 Jahren verpflichtend ist) kam er schon bald gut mit.

Unser Kleiner fing damals eigentlich erst so richtig mit seinem Erstspracherwerb an. Für ihn mit seinem eher verträumten Naturell bedeutete die neue Sprache durchaus einen Rückschlag. Lustig war, dass er von einer Erzieherin im Kindergarten in den ersten Monaten einen breiten Dorset-Akzent annahm (damals lebten sie in Dorset in Südengland, der Umzug nach London kam erst später). Das machte es für die Großeltern – meine Eltern, die von M. sind schon seit Jahren tot – mitunter schwierig, ihren kleinen Enkel via Skype oder Telefon zu verstehen.

Im Vorfeld hast Du erzählt, dass auch der Vater Deiner Kinder kein Brite ist: Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Ein Hintergrund des Arrangements ist, dass mein Ex-Mann bereits einen ersten Anlauf zu einer Familie in erster Ehe hinter sich hatte, als wir uns trafen, und ihm damals in seinem Erleben die Kinder „weggenommen“ wurden, inkl. traumatischer Erlebnisse mit Jugendamt und Gericht. Als ich feststellen musste, dass es mit unserer Ehe nicht mehr weitergeht, lebten wir alle im ehemaligen Elternhaus meines Mannes. Ich zog aus und suchte mir zunächst ein Zimmerchen in der Nähe. Schon früher hatten wir darüber gesprochen, gemeinsam nach England auszuwandern, da es ein echter Lebenstraum meines Mannes war.

Wenn ich nun einen so krassen Schritt gehe und mich von meiner Familie trenne, um wieder mehr „ich selbst“ sein zu können, wie kann ich da meinem (Ex-)Partner verbieten, seinen Lebenstraum zu erfüllen?

Ihn hielt hier nicht mehr viel nach der Trennung, und in seiner Vorstellung war Großbritannien damals der Inbegriff von Zivilisiertheit, Kultiviertheit und Toleranz.

Wir haben in einem Ehevertrag abgesichert, dass er das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf EU-Großbritannien hat (womit zB ausgeschlossen ist, dass er mit den Kindern auf die Falkland-Inseln zieht!).

Nun lebt Ihr das Modell schon ein paar Jahre: Wie fühlt es sich für Euch ein und vor allem wie sind Reaktionen aus dem Umfeld?

Die meisten Reaktionen aus dem Umfeld waren und sind ungläubig bis entsetzt. Für die meisten Menschen (speziell Mütter) ist es UNDENKBAR, dass eine Mutter nicht die ganze Zeit bei ihren Kindern ist. Diese heftigen Reaktionen haben mich früher oft sehr in die Defensive gedrängt, und viel zu häufig fand ich mich in sehr persönlichen Diskussionen wieder über mein Scheitern als Mutter.

Inzwischen habe ich mir angewöhnt, mit gnadenloser Ehrlichkeit zu antworten: ja, das ist schwer. Ja, ich vermisse sie mitunter wie Hölle. Ja, natürlich sind meine Kinder vor allem beim Abschied traurig. Aber nein, sie wachsen trotzdem fröhlich und wohlbehalten auf.

Von anderen Personen würde ich mir mitunter etwas mehr Sensibilität wünschen, dass ich nicht alle Details meines Familienleben ständig besprechen möchte – bei neugierigen Menschen kann es bis zu einem Jahr dauern, bis wir das geklärt haben… Immer wieder werde ich auch gefragt, ob M. und die Kinder nicht irgendwann wieder aus UK zurückkommen? Vor dem Umzug nach London aus dem ländlichen Südengland sah es kurz so aus, nun fühlen sie sich in der Großstadt deutlich wohler.

Du hast erzählt, dass Du Deine Kinder alle paar Wochen siehst: Wahrscheinlich ist das nicht immer einfach, wann ist es besonders hart?

Weihnachten wird immer gemeinsam gefeiert.

Wie schon erwähnt: ja, natürlich ist es oft hart. Meine Kinder gehen unterschiedlich damit um – mein Kleiner ist recht gut darin, sich von unangenehmen, traurigen Gefühlen abzulenken, indem er in seine Spielwelt eintaucht. Kurz nach einer Abreise von mir möchte er in den ersten Tagen auch mitunter nicht skypen, ich vermute, aus Selbstschutz. Mein älterer Sohn ist sehr emotional und weichherzig, da fließen auch schon mal die Tränen, besonders bei den Abschieden. Er liebt uns beide, Vater und Mutter, und ich versuche ihm zu vermitteln, dass das auch richtig ist.

Mein Noch-Mann ist zwischenzeitlich als Alleinerziehender schon deutlich belastet, und man merkt mitunter, dass seine Energieressourcen begrenzt sind. Hobbies für die Kinder müssen zB in der Nähe sein, weil er sie nicht stundenlang quer durch die Stadt fahren will oder kann. Ich selbst habe besonders die ersten 1-2 Jahre sehr gelitten und durch Frustfressen auch über die Jahre bis zu 15 Kilogramm zugenommen (die inzwischen dank Ernährungsprogramm wieder runter sind, hurra).

Andererseits habe ich mir auch geschworen, diese traurige Freiheit zu nutzen, und habe beispielsweise zwei Jahre lang ein Abendstudium zusätzlich zu meinem Job absolviert, was ich als Vollzeit-Mutter wohl nicht versucht hätte. Meiner Karriere hat diese Zeit sehr gut getan, ich verdiene inzwischen fast doppelt so viel wie zur Zeit der Trennung.

Mit dem Flugzeug ist London schnell zu erreichen: Was bedeutet es für Euer Familienmodell, wenn der Brexit tatsächlich kommt?

Meine persönliche Brexit-Vorbereitung bestand bisher darin, dass ich mir einen elektronisch lesbaren Reisepass angeschafft habe, um am Flughafen auch die automatisierte Schnell-Einreisekontrolle nutzen zu können. In London sind die Verwerfungen in der Gesellschaft weniger deutlich zu merken als im ländlichen Südengland, wo meine Familie bis vor 1,5 Jahren gewohnt hat; die Schule der Kinder ist recht international mit etwa einem Drittel nicht-englischstämmiger Kinder in der Klasse (davon die Mehrheit mit einem oder beiden Elternteilen aus der EU).

Meine nächsten Besuche habe ich so terminiert, dass sich das schlimmste Chaos nach dem 29. März, dem Austrittsdatum, zunächst einmal legen kann. Auch im Falle eines No-Deal-Brexit soll die Einreise für einen Aufenthalt von bis zu 90 Tagen (auch in Etappen) visafrei bleiben, zumindest für eine Übergangszeit bis Ende 2021. Ich bin froh, dass meine Kinder nicht regelmäßig auf Medikamente angewiesen sind, sodass etwaige Versorgungsengpässe unsere Familie nicht betreffen werden.

Ansonsten hoffe ich im Geheimen, dass M. besonders im Fall eines harten Brexit die Wahl seines Lebensmittelpunktes noch einmal überdenkt – darüber gesprochen haben wir aber noch nicht, da er als Optimist immer noch davon ausgeht, dass Großbritannien in der EU bleibt…

Was wünscht Du Dir für Dich und Deine Familie für die Zukunft?

Ich wünsche mir vor allen Dingen, dass meine Kinder und ich weiterhin einen so engen emotionalen und vertrauensvollen Kontakt behalten, wie wir ihn derzeit haben (und dass, obwohl wir schon so lange nicht mehr unter einem Dach leben, darüber bin ich sehr dankbar).

Vielleicht entscheidet sich auch einer oder beide meiner Söhne im Teenageralter, lieber bei Mama wohnen zu wollen? Ich würde ihnen sehr gern noch ganz vieles mitgeben und habe das Gefühl, ihnen etwas „schuldig“ zu sein. Zumal das auch meinen Ex-Mann entlasten würde, der dann ganz unbeschwert von elterlichen Pflichten seinen Träumen von Theaterproduktionen in London nachgehen könnte. Vermutlich wird er auch steinalt werden, um mir möglichst lange auf den Keks gehen zu können. Grundsätzlich wird es für meine Kinder und mich natürlich immer einfacher, den Kontakt zu gestalten, je älter sie werden.

Vielen lieben Dank, Nina. 

Nina heißt nicht wirklich Nina und möchte hier auch nicht mit vollem Namen auftreten: Sie freut sich aber sicherlich über Eure Kommentare. Wenn jemand mit ihr persönlich in Kontakt treten möchte, schreibt mir doch eine Mail an fruehesvogerl@gmail.com – ich leite diese dann gerne weiter.

Mehr Familienrollen zu unterschiedlichen Familienmodellen gibt es wie immer hier.

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