Alltag, Familienrollen

Über Großeltern und Sucht

Ein Gastbeitrag von Lisa* („Ich kann nicht in deiner Nähe leben, weil ich dich liebe.“)

„Wir wollen uns ein Haus kaufen“, erzähle ich meinen Eltern stolz. „Wo?“, fragen sie. „In Köln natürlich“ antworte ich. „Super“, sagt mein Vater. „Nein“ sagt meine Mutter mit unendlich trauriger Stimme: „Das ist viel zu weit weg“.

400 km sind zu weit, um sich oft zu besuchen, zu weit um sich einfach mal zu drücken, wenn es einem schlecht geht oder um die ersten Schritte des Enkelkinds zu sehen. So weit, dass meine Tochter ihre Oma bei ihren Besuchen nicht erkennt. So weit, dass es weh tut.

Daher haben wir darüber nachgedacht, zurück zu ziehen. Bei meiner Familie zu sein, statt bei seiner. Er war einverstanden. Ich habe gesagt, ich will nicht.

Deinetwegen, Mama. Weil ich es nicht ertragen würde, in deiner Nähe zu leben. Weil du Versprechen machst und brichst. Weil du Hoffnungen machst und zerstörst. Weil du deine eigenen Ideale verrätst und mir den Glauben nimmst. Weil du alle meine Kraft aufzehrst, wenn ich in deiner Nähe bin.

Dabei kann ich eigentlich Kraft schöpfen, aus den Besuchen bei euch. Ich freue mich immer darauf, vor dem Kamin zu sitzen, aus dem großen Wohnzimmerfenster in den von dir liebevoll gepflegten Garten zu gucken, den Vögeln beim Picken von Körnern zuzuschauen, die du ihnen gestreut hast. Das ist Zuhause für mich. Selbstgekochte Marmelade zu essen, den besten Käsekuchen, den nur du backen kannst und dein Strahlen zu sehen, wenn du dein Enkelkind auf dem Arm hältst, das ist reines Glück.

Bis zu dem Abend, der immer kommt. Der Abend, an dem ich deinen ausweichenden Blick sehe. Wo du überschwänglich fröhlich bist, aber nicht nah. Wo du meine Tochter trägst, ich verunsichert bin, dich gehen lasse und dann doch hinterherrenne, sie dir wegnehme und sage, „Mama, ich bin nicht sicher, ob du getrunken hast“.

Ich bin mir oft nicht sicher. Dabei ist dein Schuldbewusstsein kilometerweit zu spüren. Aber deine jahrelange Erfahrung lässt es dich gut tarnen und ich will den Versprechen glauben, die du mir gegeben hast: „Ich will nicht mehr trinken. Ich kann nicht versprechen, dass es klappt, aber ich kann versprechen, mich dann von meiner Enkeltochter fernzuhalten“. Das hast du mir versprochen und meinem Freund und jetzt stehe ich wieder vor dir, nehme dir das Kind ab, das zum Glück nicht merkt, was los ist und will dir meine Tränen des Zorns, der Wut und der unendlichen Traurigkeit ins Gesicht schleudern. Gleichzeitig weiß ich, dass es jetzt nicht geht. Dass du jetzt nur alles abstreiten würdest, weil du gar nicht anders kannst und dass ich nur mit dir reden kann, wenn du nüchtern bist.

Also versuche ich ruhig zu bleiben. Ich versuche einen normalen Abend zu verbringen. Auch für meinen Freund. Er fühlt sich so machtlos, diesem Problem gegenüber, dass er nicht für mich lösen kann, wie fehlende Löcher in der Wand. Ich erzähle über meinen Job und die neue Küchenmaschine und schreie innerlich nur „Mama! Warum?“

Mein Vater spielt mit und durchschaut dich doch jedes Mal. Seit 30 Jahren hält er es trotzdem mit dir aus. Auch, wenn er oft an seine Grenzen kommt: „Wir müssen uns trennen“ sagt er dann, „dann merkt sie endlich, dass es so einfach nicht geht. Alkoholiker müssen am Boden sein, um etwas zu ändern“.

Das hat er irgendwo gelesen, weil er sich informiert, weil er helfen will und daran verzweifelt, nicht helfen zu können. Weil er dich trotz allem so liebt, dass er sogar auf dich verzichten würde, um dich zu retten. Nur ich kann das nicht als Rettung sehen und mir nicht vorstellen, was aus dir werden würde, ohne ihn als Stütze. Du sagst so oft, du bist stark. Aber der Alkohol ist doch immer stärker. Ich liege die Nacht wach und denke darüber nach.

Ich habe so oft gehofft. Ich habe sehr gehofft, dein Enkelkind würde deinen Siegeswillen wecken. Ich habe gespürt, wie nah du mir warst. Ich habe so oft an dich gedacht, in der ersten Zeit, weil diese neue Liebe so unglaublich groß war und ich mir sicher war, so sehr hast du mich auch einmal geliebt. So eine Liebe kann doch nicht kleiner werden, du musst mich doch noch immer so lieben, dass du nicht zulassen kannst, dass irgendetwas uns trennt. Aber du lässt es zu. Mehr als die 400 km trennt uns die Tankstelle um die Ecke und der Schnaps, den du dort heimlich kaufst.

Ich weine, lasse mich durch den ruhigen Atem meiner Tochter trösten und weine wieder, weil ich um die Oma trauere, die sie hätte haben sollen. Ich hatte mir schöne Sommerferien auf dem Land für sie gewünscht und Besuche bei den Großeltern, die Höhepunkte sind.

Aber ich kann sie nicht mit dir allein lassen. Ich habe zu viele Bilder im Kopf, von den großen Kletterbäumen, dem schönen See ums Eck, dem Heuboden mit der Styropordecke. Ich denke an die Geschichte, als das Regal auf meine kleine Schwester fiel und sie fast erdrückt hätte: „So blöd kann man gar nicht denken, wie Kinder Dinge anstellen können“. Aber wenn sie es tun, denke ich, dann muss man denken können. Dann muss man bei klarem Verstand sein.

Ich kann dich nicht mit meiner Tochter allein lassen. Ich kann nicht in eure Nähe ziehen, weil das die Voraussetzung wäre. Und weil Distanz auch den Schmerz dämpft, das Gedankenkarussell stoppt, Schlaf ermöglicht, Kraft gibt, die ich brauche, jedes Mal, wenn ich dich anspreche.

Am nächsten Tag tue ich das wieder. Du siehst ein, du bereust, du sagst, dass du glaubst, dass du es alleine schaffst, loszukommen. Ich sage, dass ich will, dass du eine Therapie machst. Sonst wirst du dein Enkelkind nicht oft sehen. Man sieht, dass dich das trifft. Aber du sagst nichts.

Als wir wieder zu Hause sind, rufst du an. „Ich versuch es noch einmal alleine“, sagst du mit fester Stimme: „Und wenn nicht, dann mache ich eine Therapie“.
Ich versuche glücklich zu sein, als ich das höre. Aber ich merke, dass ich nicht daran glauben kann.
Der nächste Besuch ist schön. Nichts passiert. Deine Blicke sind fest. Deine Stimme auch. Deine Freude ungetrübt, deine Ängste unbezwungen aber gezähmt. Ich schöpfe Hoffnung.

Häuser in Köln suche ich trotzdem. Du schickst ein Überraschungspaket mit einem selbstgestrickten Pullover für dein Enkelkind. Ich rufe dich an, um mich zu bedanken, aber erreiche dich den ganzen Tag nicht. Abends um neun geht mein Vater ans Telefon: „Deine Mutter schläft schon“. Ich weiß, was das heißt. Ich weiß, dass du es nicht ausgehalten hättest, ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er nach Hause kommt. Ich weiß, dass die Wohnung blitzblank sein wird und das Essen auf dem Herd steht und du auf alle erdenkliche Arten versucht haben wirst, ihm eine Freude zu machen, um nur diese eine Enttäuschung zu überspielen: Du hast es wieder nicht geschafft.

„Passiert manchmal“, sagt mein Vater: „Aber eigentlich läufts gut im Moment“. Seine Stimme zittert ein wenig.
Ich nehme auch ihm die Möglichkeit, sein Enkelkind aufwachsen zu sehen. Ich gebe dir die Schuld daran.
Ich würde es nicht ertragen, in deiner Nähe zu leben. Weil ich meine Tochter so liebe. Und dich.

Der Text ist sechs Jahre alt: Morgen wird Lisa in den Familienrollen erzählen, wie sich die Sucht ihrer Mutter und die Beziehung zwischen Kind und Großeltern entwickelt hat: Hier ist das Interview.

Lisa möchte anonym bleiben, liest aber mit und freut sich bestimmt über Kommentare.

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