Familienrollen

Tay-Sachs-Syndrom: „Ich möchte nicht in Trauer zuhause sitzen und mein Leben an mir vorbeiziehen lassen.“

Die große Tochter von Eva ist unheilbar krank: In den Familienrollen erzählt sie, woher die Familie ihre Kraft schöpft, wie der Alltag aussieht und wie sehr sie ihre beiden Töchter liebt. 

 

Deine kleine Tochter durfte ich bei der Familienbloggerkonferenz K3 kennenlernen: Helena. Deine große Tochter heißt Haylie, sie kenne ich „nur“ durch Deinen Blog, wo Du von Eurem Alltag mit ihrer Krankheit berichtest: Welche Krankheit hat Deine Tochter genau?

 

Haylie hat die infantile Form des Tay-Sachs-Syndroms – das ist eine angeborene erbliche Stoffwechselkrankheit, die bisher leider nicht heil- oder behandelbar ist.
Um diese Krankheit so einfach wie möglich zu erklären, stellt euch den menschlichen Stoffwechsel so vor: Der Körper nimmt verschiede Stoffe auf zum Beispiel  durch die Nahrung – jede Zelle des Körpers nimmt sich sozusagen was sie braucht, und ein kleiner Teil bleibt übrig – weil den keine Zelle mehr brauchen kann. Bestimmte Teilchen im Stoffwechsel würden normalerweise diese Stoffe wieder abtransportieren wie eine Müllabfuhr.

Bei Tay-Sachs fehlt aber eines dieser Teilchen der Müllabfuhr – ein Enzym namens HexA und daher kann es die Reststoffe nicht aus dem Körper abtransportieren: Die einzige Konsequenz ist diese Stoffe in den Zellen einzulagern – welche diese dann in Fett umwandeln. Wie es so ist in einem Lager, ist irgendwann kein Platz mehr über und dadurch können die Zellen dann irgendwann nicht mehr funktionieren und sterben ab. Dieser Prozess findet im ganzen Körper statt – wodurch nicht nur das Gehirn stark betroffen ist – dass ja alles steuert, sondern eben auch die Muskeln, die Knochen, die Organe etc.

 

Der schlimmste Schaden passiert leider im Gehirn – dadurch das Zellen sterben können Reize nicht mehr verarbeitet werden, die Kinder bekommen Epileptische Anfälle, sie werden blind, bewegungsunfähig, unfähig zu sprechen, zu schlucken und so weiter. Der Körper stirbt langsam – Zelle für Zelle.

Die meisten Kinder mit der infantilen Form (also frühkindlichen Form) bekommen die ersten Symptome im Alter von 6 Monaten – dann beginnt sich alles zurück zu entwickeln was das Baby bis dato gelernt hat – und sterben meist im 3. Lebensjahr.

Haylie ist eine Kämpferin! Sie ist nun schon 7 ein halb Jahre alt! Ein kleines Wunder sozusagen!

 

Die Krankheit ist allgegenwärtig: Wie sieht Euer Alltag aus? 

 

Unser Alltag ist in die Essenszeiten und Medikamentengaben von Haylie gegliedert – und alles was wir machen können oder eben nicht hängt sehr stark von Haylies Gesundheitszustand ab. Momentan zum Beispiel ist nicht einmal ein Spaziergang möglich, da Haylie zurzeit rund um die Uhr Sauerstoff braucht und durch die Belastung der Lunge auch ihr HighFlow Gerät (dieses ist leider nicht mobil) ununterbrochen benötigt.

Ein normaler Tag beginnt bei uns spätestens um halb 9 – mittlerweile wird die Aufstehzeit allerdings von Helena bestimmt – also meistens um 6/halb 7. Dann übersiedeln wir erstmal Haylie und all ihre Geräte (Überwachungsmonitor, Sauerstoffgerät, Highflow-Gerät, Absauggerät) in das Wohnzimmer und dann muss Haylie als erstes inhalieren (da sie dauerhaft Schleim in der Lunge hat durch die Bettlägerigkeit). Währenddessen mache ich Helena ihr Frühstücksmüsli und mir einen schnellen Kaffee. Nach dem inhalieren bekommt Haylie eine frische Windel und dann bereite ich ihr Frühstück zu, und sondiere es ihr gemeinsam mit ihren Medikamenten über ihre Magensonde.

 

Danach darf sie kurz ruhen um zu verdauen, und Helena hat eine kurze Zeit meine ganze Aufmerksamkeit. Natürlich sind wir immer in der Nähe, da Haylie auch in ihren Ruhezeiten immer mal wieder abgesaugt werden muss. Zwischendurch muss sie immer mal wieder umgelagert werden (spätestens alle 2h), damit die Lunge von allen Seiten belüftet werden kann und um keine Druckstellen zu bekommen. Je nachdem wieviel Zeit wir haben wird dann das Essen gekocht, oder Haylie auf der Couch gepflegt. (Wenn Papa daheim ist übernimmt er das kochen und auch die Beschäftigung von Helena weitestgehend).

 

Dann wiederholt sich eigentlich alles immer wieder. Inhalieren, Windel wechseln, Augenpflege, Pflege, Sondieren, Medikamente, und alles wieder von vorn. Bis wir dann am Abend meistens nach der letzten Medikamentengabe wieder alles ins Schlafzimmer, in dem wir alle vier schlafen übersiedeln und ich Haylie bettfertig mache. Nachts hat sie momentan einen Augenverband den ich ihr dann noch anlege und dann gehen wir schlafen. Alle zwei Stunden läutet allerdings mein Wecker und ich muss Haylie umlagern, aber da wechseln wir uns eigentlich alle zwei Nächte ab – ja, ich hab einen tollen Mann.

Rausgehen ist momentan nicht wirklich drinnen – aber wir haben zum Glück unsere Oma im Haus mit der Helena dann auch fast täglich ein bisschen rausgehen kann. Manchmal, aber leider fast zu selten, bekommen wir Besuch von Freunden – das ist immer sehr schön und bringt ein bisschen Abwechslung in unseren sonst so tristen Alltag und an zwei Vormittagen in der Woche habe ich eine Krankenschwester von der Volkshilfe bei Haylie sodass ich die Einkäufe erledigen kann, Haylies Rezepte holen und zur Apotheke bringen kann etc.

Manchmal geht sich sogar noch ein Kaffee oder eine kurze Shoppingtour in der Varena aus. Und alle 2 Wochen darf Haylie das Wochenende bei ihrem leiblichen Papa verbringen – der sich auch liebevoll um sie kümmert – und mein Mann, Helena und ich haben eine kurze Verschnaufpause und können ganz normale Familiendinge machen! In Zeiten wo Helena bei Oma ist und Haylie schläft oder abends, wenn Stefan bei Haylie ist und Helena schon schläft findet sich dann manchmal ein kleines Zeitfenster zum bloggen.

 

Natürlich ist nicht jeder Tag gleich bei uns. Wenn es Haylie gut geht dann können wir auch mal spazieren gehen oder in den Garten, dafür ist es superstressig, wenn es ihr nicht so gut geht. Dann muss oft auch in der Nacht ständig abgesaugt werden und ich komme manchmal nur auf vielleicht 3-4h Schlaf pro Nacht. Auch muss man dann viel Physio mit ihr machen, um die Lunge wieder freier zu bekommen, da bleibt dann keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Kein Bloggen, kein Besuch – kein Spielen mit Helena. Es ist also sehr unterschiedlich.

 

 

Die Krankheit gilt als unheilbar und Du schon einige Kinder mit dieser Krankheit gehen sehen: Wie geht Ihr damit um? 

 

Ja, das stimmt. Wir haben den Tod von sehr sehr vielen Kindern mitbekommen und auch betrauert. Manche kennt man nur online, weil sie aus Amerika sind etc, aber trotzdem fühlt man sich wie eine Familie.

 

Man geht den selben Weg, kann viele Probleme, Ängste, Sorgen, die Wut aber auch die schönen Dinge miteinander teilen – und das schweißt schon sehr zusammen. Manche haben wir auch persönlich kennengelernt und selbst im Arm gehalten – dann ist es natürlich nochmal schwerer.

 

Der erste Tod den ich mitbekommen habe von einem Kind ging mir am nächsten, obwohl ich den kleinen Jungen aus Australien nie kennenlernen durfte. Er nahm an einer umstrittenen experimentellen Behandlung teil und natürlich haben auch wir aus der Ferne da sehr mitgehofft. Der Kleine Tommy ist aber dann doch seiner Krankheit erlegen im 3. Lebensjahr. Ich habe tagelang geweint und getrauert um ein eigentlich fremdes Kind.

Mit der Zeit allerdings härtet man ab. Man lernt die fremden Kinder nicht so sehr an sich ranzulassen. Aber wirklich trauern muss ich mittlerweile nur mehr um die Kinder, die ich wirklich persönlich kennengelernt habe. Es sind einfach zu viele Kinder weltweit und da würde ich sonst daran zu Grunde gehen. Ich kapsel mich dann also stark ab. Natürlich ist es immer hart von einem Tod zu lesen oder zu hören, aber ich versuche dann einfach nur die Zeit mit Haylie noch ein bisschen intensiver zu erleben und versuche aus den Tag noch ein bisschen mehr herauszuholen, die Zeit ein bisschen mehr zu schätzen.

 

Du engagierst Dich stark ehrenamtlich: Welche Erfahrungen hast Du hierbei gemacht? 

 

Ja, ich habe den ersten deutschsprachigen Verein/Selbsthilfegruppe gegründet und habe einige Veranstaltungen, zum Beispiel das erste Familientreffen für Betroffene aus ganz Europa, selbst organisiert etc. Aber es ist nicht immer einfach.

Niemand kennt diese extrem seltene Krankheit und viele wollen nicht für etwas spenden das sie nicht kennen. Außerdem findet man einfach kaum Ehrenamtliche Mitarbeiter – denn wozu sollte man sich auch mit seiner Freizeit und seiner Energie für etwas einsetzen, dass einem selbst ja nicht betrifft?

 

Wir haben seit der Vereinsgründung immer wieder mit den Mitgliedern zu kämpfen, weil wir einfach viel zu wenige sind, um wirklich effektiv gute Arbeit zu leisten. Und oft blieb dann die gesamte Arbeit an mir hängen, und mit den Kindern ist das einfach zu viel.

 

Ich hatte oft das Gefühl den Verein mit purer Willenskraft irgendwie am Leben zu erhalten und noch möchte ich nicht aufgeben. 2017 hatte ich eine Vereinspause eingelegt und die Vereinsarbeit für ein Jahr pausiert. Aber nun 2018 möchte ich gerne wieder voll durchstarten!

 

Natürlich wäre das alles viel einfach und schöner und motivierender, wenn wir einfach mehr Hilfe hätten – wenn sich mehr Menschen ehrenamtlich für eine so seltene Krankheit einsetzen würden – auch wenn es sie nicht persönlich betrifft. Es kann nun mal jeden treffen! Ich hätte mir auch nie gedacht, dass ich mal ein so krankes Kind haben würde – und ich wäre so dankbar gewesen hätte es damals bei der Diagnose schon so einen Verein gegeben! Jeder braucht mal Hilfe – und jeder sollte meiner Meinung auch mal anderen helfen – und dafür gäbe es das Ehrenamt!

 

Ob man Deinen Blog liest, oder Dich selbst nur kurz sieht: Du scheinst vor Kraft zu strahlen, woher nimmst Du Deine Energie?

 

Ich halte es da wie die Gilmore Girls – Koffein in rauen Mengen!

 

Ich denke, dass ich einfach das Leben noch nicht aufgeben möchte. Ich möchte nicht in Trauer zuhause sitzen und mein Leben an mir vorbeiziehen lassen. Ich möchte etwas leisten und etwas bewirken und nicht nur untätig zusehen wie mein Kind langsam stirbt.

 

Ich möchte, dass meine Tochter stolz ist auf mich, und ich möchte selber stolz sein können auf mich und darauf, dass ich nicht aufgebe und immer weiterkämpfe.

 

Ich glaube, dass eine positive Einstellung zum Leben essentiell ist, um so eine Krankheit – so eine Diagnose beim eigenen Kind überhaupt überleben zu können. Man muss so viel lernen, so viel aufgeben, so viel gehen lassen – man muss trauern – jahrelang und dass auch noch doppelt. Zuerst betrauert man das „gesunde“ Kind, dass man einige Monate kennenlernen durfte, und dass man dann langsam verliert. Und später, wenn es dann gestorben ist, trauert man über den Verlust des „kranken“ Kindes. Man ist also im Grunde immerzu von Trauer umgeben.

Und da den Mut zu verlieren kann sehr schnell gehen. Ich halte mich fest an jedem Strohhalm – an allem das mir Kraft gibt. An meinem Mann, meiner Helena (die sehr viel Normalität und Freude in unser Familienleben bringt) und meinen Freunden!

 

Auch mein Blog gibt mir immer wieder Kraft und die Musik ist ebenfalls ein sehr wichtiger Bestandteil. Aber am meisten aufrecht hält mich trotz allem Haylie. Mit ihrem Lebenswillen, mit ihrer Kraft inspiriert sie mich jeden Tag! Und ganz ehrlich – wenn Sie durchhalten kann und dass obwohl sie nichts mehr sehen kann, sich nicht mehr bewegen kann, nicht sprechen kann und schlecht hört, obwohl sie immer wieder Anfälle hat, immerzu Atemprobleme und immer wieder im Rachen abgesaugt werden muss, ihr Tag von Medikamentengaben und lagern bestimmt wird und so weiter, was wäre ich dann für eine Mutter, wenn ich nicht auch kämpfen würde? Wenn ich nicht auch für sie stark wäre und mit ihr jeden Tag das beste daraus machen würde? Aufgeben gibt’s nicht. Also kämpfen wir! Und natürlich ziehe ich auch sehr viel Kraft aus den 2 Wöchentlichen Verschnaufpausen an den Wochenenden!

 

Was wünscht Du Dir für Deine Kinder?

Natürlich wünsche ich mir wie jede Mama, dass sie glücklich sind, dass sie ohne Gewalt aufwachsen dürfen und zu liebevollen toleranten Menschen heranwachsen. Gesundheit würde ich mir für alle beide an erster Stelle wünschen, aber auch Akzeptanz, Toleranz, Mitgefühl, aber kein Mitleid von der Außenwelt.

 

Haylie ist so wie sie ist, und wir machen das beste daraus. Dass es trotz allem immer wieder Menschen mit Vorurteilen gibt, dass einem auch vom Land/Staat/System immer wieder Steine in den Weg gelegt werden usw müsste wirklich nicht sein.

Ich wünsche mir für Haylie, dass sie keine Schmerzen leiden muss, und dass sie trotz allem glücklich sein kann und in Frieden sterben darf, sobald sie gehen möchte. Und für Helena wünsche ich mir noch genug Zeit mit ihrer Schwester, dass sie sich auch später an sie erinnern kann und dass sie weiterhin so ein liebevoller kleiner Mensch bleibt, der durch seine große kranke Schwester so viel lernen und erfahren darf.

 

Vielen lieben Dank für Deine offenen Antworten, Eva. 

 

Mehr über Eva und ihre Familie findet Ihr auf ihrem Blog D-Day mal anders.

 

Am Ostersonntag ist die kleine Haylie verstorben: Es gibt eine Spendenaktion an der man sich beteiligen kann, um Familien, die vom Tay-Sachs-Syndrom betroffen sind, Hilfe zu kommen zu lassen.

 

Ihr wollt über ein bestimmtes Thema in den Familienrollen lesen, oder mir von Eurer Familie erzählen? Dann schreibt mir eine Mail an fruehesvogerl@gmail.com.

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