Wie selbstbestimmt kann ein Kind mit 5 sein? Wie gelingt Eltern das Zusammenspiel von Wurzeln und Flügeln geben? Katja Seide und Danielle Graf haben einen Ratgeber für das Alter zwischen 5 und 10 geschrieben. Das Werk der Bloggerinnen von „“ ist wie gewohnt sehr lesenswert und Ihr könnt es gleich zwei Mal gewinnen.
Vieles aus Eurem Buch wusste ich theoretisch, praktisch hilft es mir immer wenn es (von Euch) aufgeschrieben da steht. In Eurem ersten Buch ging es um die „Trotzphase“, nun um das Alter zwischen 5 und 10: Was passiert in dem Alter eigentlich und wie können Eltern für die ganze Familie in dieser Zeit Ihr Bestes geben?
In den Jahren 5-10 geht es ganz stark ums soziale Lernen. Genau dafür sind die wichtigsten neuronalen Verbindungen im Gehirn angelegt. Vor allem die Fähigkeit, Situationen aus den Augen eines anderen zu sehen, ist dabei immens wichtig. Nun geht es eben darum, herauszufinden, welche Art von Mensch man sein möchte. Deshalb wird viel gestritten und sich vertragen, es kann sein, dass zwei fies zu einem dritten sind, es ist möglich, dass Kinder in dem Alter fremde Dinge entwenden, dass sie lügen und betrügen, oder frech zu ihren Eltern sind. Das alles gehört dazu. Es ist eben ein Lernprozess. Kinder lernen auch nicht an einem Tag sprechen oder laufen, sie fallen viele Male auf die Nase, bis sie ihr Gleichgewicht halten können. Genauso verhält es sich mit dem sozialen Lernen. Kinder müssen erleben dürfen, wann eine Bemerkung zu gemein ist und vielleicht eine Freundschaft beendet und sie müssen auch erlebt haben, wie weh es tut, von der besten Freundin angelogen worden zu sein. All das speichert sich als Referenzssituationen im Gehirn ab und hilft später, sozial angemessen zu agieren und Impulse zu unterdrücken. Was Eltern tun können ist, sich ein bisschen zurückzuziehen aus den Angelegenheiten der Kinder. Freundschaftsstreits müssen nicht dringend von Erwachsenen moderiert werden (wenn es sich nicht um Mobbing handelt), und wie viel das Kind isst, wann es ins Bett geht oder was es anzieht, sollte es auch selbst entscheiden können. Damit ist nicht gemeint, sich völlig vom Kind zurückzuziehen. Das wollen sie auch gar nicht, sie wollen ja durchaus noch mit uns spielen, kuscheln oder in einem Bett schlafen. Es ist jetzt nur eben an der Zeit, den Kindern mehr Freiheit zu geben, ihre eigenen Fehler zu machen.
Liest man in Eurem Buch kommt ein Verdacht auf, den ich häufig habe: Es gibt viele bedürfnisorientierte Eltern, die sich leichter tun Geborgenheit zu geben, als Selbstständigkeit zu zulassen. Wahrscheinlich weiß jeder, dass Wurzeln und Flügeln unabdinglich sind: Wie gelingt das ideale Zusammenspiel?
Ich weiß gar nicht, ob das wirklich so ist, dass die bedürfnisorientierten Eltern besser im Wurzelngeben sind, als loszulassen. Das hängt sehr mit dem zusammen, was man in seiner eigenen Kindheit erlebt hat, also ob man ein autonomes Elternteil oder ein angepasstes Elternteil ist. Autonome Eltern finden die Babyphase anstrengend, weil die Kinder so abhängig von ihnen sind, und freuen sich, wenn sie endlich loslaufen und die Welt erobern (und sie selbst mal wieder derweil einen Kaffee trinken können). Angepasste Eltern lieben Harmonie und können sich mega gut auf die Bedürfnisse von Babys einstellen und sich selbst zurücknehmen. Sie finden es dann aber plötzlich schwierig, wenn die Kleinen ihren eigenen Kopf entdecken und es zu Trotz und Streit kommt.
Wenn du besser im Wurzelgeben bist, dann wird es dir tatsächlich schwer fallen, loszulassen, jetzt, wo deine Kinder schon etwas größer sind.
Es ist aber wichtig – Wurzeln und Flügel sollten sich die Waage halten. Insofern ist es gut, wenn Kinder mehrere Bezugspersonen haben. Vielleicht ist dein Mann entspannter, wenn es darum geht, deine Kinder auf Bäume klettern, allein zum Bäcker gehen oder im Herbst ohne Jacke herumlaufen zu lassen – dann gib das ab an ihn! Oder vielleicht habt ihr Oma, Opa, Babysitterin, Patenonkel, die den gegensätzlichen Part von euch übernehmen können.
Am besten seid ihr dann auch gar nicht anwesend, wenn die etwas mit euren Kindern unternehmen, damit sich eure Angst nicht unbewusst überträgt. Als Richtlinie für ein ausgewogenes Wurzel-Flügel-Verhältnis könnte man sagen: Alles, was euer Kind selbständig machen möchte, solltet ihr ihm erlauben. Bei allem, wo es sich an euch wendet, solltet ihr es noch unterstützen. Kinder wissen von Natur aus sehr gut, was sie sich zutrauen können.
Selbstbestimmung ist immer wieder Thema, ob Essen, Mediennutzung oder die morgendliche Wahl der Klamotten: wie viel Selbstbestimmung ist im Alter zwischen 5 und 10 gut, wann wird es absurd?
Das lässt sich so pauschal gar nicht sagen. Es gibt Kinder, die extrem gut mit Selbstbestimmung umgehen können und sich ihre Süßigkeiten, Mediennutzung und Schlafenszeiten vorbildlich einteilen. Die allermeisten Kinder müssen das aber mühevoll lernen – und die Eltern sollten ihnen diese Übungsphase zugestehen.
Dazu gehört alles, was den Körper des Kindes betrifft: Was ziehe ich an? Ist mir zu kalt oder zu warm? Wieviel Hunger habe ich? Wann bin ich müde? Mit wem möchte ich befreundet sein, mit wem nicht? Von wem lasse ich mir auf die Wange küssen, wer darf mich umarmen, wer nicht?
Wie ich schon schrieb – genau dafür sind diese fünf Jahre der mittleren Kindheit ja da. Um herauszufinden, wer man ist, wer man sein möchte, was man mag, was man kann oder auch nicht. Zum Üben gehört, Zeit zu haben, und auch mal den falschen Weg gehen zu können, um dann aus den natürlichen Konsequenzen zu lernen.
Bleibe ich bis 23 Uhr nachts wach, muss aber morgens zur Schule, werde ich extrem müde sein und nicht lernen können. Vielleicht bekomme ich sogar Ärger von der Lehrerin. Das lehrt das Kind doch viel nachhaltiger, warum es wichtig ist, pünktlich schlafen zu gehen, als ein täglicher Kampf mit Mama und Papa. Aber klar, es bleibt die Verantwortung der Eltern, dass Kinder gesund wachsen können.
Bleibt ein Sechsjähriger monatelang nachts wach, und ist tagsüber ungenießbar, müssen die Eltern eingreifen. Ich empfinde Kinder aber als durchaus einsichtig, wenn man auf Augenhöhe mit ihnen spricht. Ich würde in einem solchen Fall also nicht mit dem Kind schimpfen, sondern besprechen, was ich beobachte (spät ins Bett, super müde, sehr explosiv) und dann mit dem Kind gemeinsam einen Plan machen. Nach meiner Erfahrung funktioniert das meist.
Wie auch schon Nora Imlau (Interview) seid ihr für eine Kindheit ohne Strafen: Warum sind Strafen nicht empfehlenswert und was statt dessen?
Strafen bringen halt einfach nichts. Vielleicht helfen sie kurzfristig, aber jeder, der mit Kindern zu tun hat weiß, dass sich Strafen abnutzen und man irgendwie immer stärker Druck ausüben muss, je älter die Kinder werden – irgendwann zieht auch „Handy wegnehmen“ oder „W-Lan ausschalten“ nicht mehr.
Und was macht man dann? Mit dem Kinderheim drohen? Mal ganz abgesehen davon, dass etliche Studien bereits bewiesen haben, dass das Strafen von Kindern eher Negatives bewirkt. Es schädigt nachhaltig die Eltern-Kind-Beziehung, weil die Kinder sich ungerecht behandelt fühlen und Rachegelüste entwickeln. Sie fangen an, immer stärker gegen alles, was von den Eltern kommt, zu rebellieren, selbst, wenn es eigentlich etwas Nettes ist. Außerdem bewirken Strafen, dass die Kinder sich darin üben, vor ihren Eltern zu verbergen, was sie getan haben. Sie verstecken, verheimlichen und lügen, um der Strafe zu entgegen. So ein Zusammenleben stelle ich mir äußerst unangenehm vor.
Es gibt für jedes scheinbare Fehlverhalten von Kindern eine bessere Lösung als Strafen (oder „logische“ Konsequenzen). Nehmen wir z.B. an, das Kind hätte etwas von der Freundin entwendet, z.B. eine Kette. Selbstverständlich muss man ihm als ersten Schritt klar machen, dass Stehlen in unserer Gesellschaft unerwünscht ist, und bei Erwachsenen bestraft wird. Doch bringt es dem Kind die Möglichkeit einer Weiterentwicklung, wenn ich es nun wegen des Entwendens ausschimpfe oder strafe? Nicht wirklich. Wenn ich stattdessen aber seine Empathie stärke (Wie fühlt sich deine Freundin jetzt? Was meinst du, hat sie gedacht, als sie bemerkt hat, dass die Kette verschwunden war?) und ihm beibringe, den von ihm angerichteten Schaden wieder gut zu machen (Kette persönlich zurück bringen und um Verzeihung bitten. Für den moralischen Fehlgriff gerade stehen.), dann kann das Kind aus der misslichen Situation etwas Wichtiges mitnehmen. Es kann lernen, was es mit seinem Verhalten bei einem anderen bewirkt und überlegen, ob es das wert war.
Wenn die neue Generation der Menschen alle ihr Verhalten danach richten, ob sie damit einem anderen schaden, dann wäre doch schon viel erreicht, oder?
Mein Eindruck ist, dass viele Eltern eine große Unsicherheit verspüren, wie sie ihre Kinder „richtig“ erziehen. Was denkst Du?
Dieser Eindruck ist sicherlich korrekt. Viele heutige Eltern wollen ungern den Erziehungs-Fußstapfen ihrer Eltern folgen, weil die Wissenschaft mittlerweile recht gut herausgearbeitet hat, wie viele Aspekte davon den Kindern geschadet haben. Aber zu wissen, was man nicht will (die „alte“ Erziehung wiederholen), bedeutet noch lange nicht, zu wissen, wie es anders gehen soll.
Diese Eltern brauchen Anregungen und Vorbilder, die sich für sie stimmig anfühlen. Deshalb suchen sie so viel in Blogs und Ratgebern nach „neuen“ Wegen, z.B. wenn das eigene Kind frech ist. Wollen sie es nicht bestrafen mit Auszeit, Fernsehverbot oder Ohrfeige wie früher üblich, welche Alternativen haben sie stattdessen? Wir befinden uns in einem klaren Paradigmenwandel, was die Sicht auf Erziehung und Kinder angeht und solche Zeiten sind fast unweigerlich mit erhöhter Unsicherheit verbunden. Und ganz sicher wird diese Generation von Eltern auch Fehler machen auf diesem neuen Erziehungsweg. Das gehört dazu.
Vielen lieben Dank, Katja.
Der Beltz Verlag stellt zwei Bücher von „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn Gelassen durch die Jahre 5 bis 10„, die ich an Euch verlosen darf. Dafür musst Ihr nur beantworten: Seid Ihr besserer Wurzel-oder Flügelgeber, und was macht Ihr für den Ausgleich? Kommentiert auf dem Blog, auf Facebook oder bei Instagram: Ich freue mich auf Eure Antworten.
Das Gewinnspiel ist bereits zu Ende. Die Gewinnerinnen sind benachrichtigt. Vielen Dank für die Teilnahme.
Ein Kauf dieses Buches lohnt sich natürlich immer.