Warum das Erziehungskonzept „Wenn-dann-sonst“ überholt ist, wann Schreien manchmal doch vertretbar ist und wie man aus alten Verhaltensmustern ausbricht: Expertin Nora Imlau gibt einleuchtende Antworten zum Thema Strafen in den Elternfragen.
In der Vorweihnachtszeit war ich recht häufig erschrocken, wie viele mit dem Ausbleiben vom Christkind/ Weihnachtsmann drohen, wenn nicht alles nach Plan läuft. Was denkst Du: Warum findet „schwarze Pädagogik“ immer noch so viele Anhänger?
Schwarze Pädagogik ist ja weniger eine Form der Erziehung als eine Form der Dressur: Da soll ein Mensch gefügig gemacht werden, und zwar mit schnellen und effektiven Mitteln. Und da sind Strafen und Drohungen ein beliebtes Werkzeug: Ich muss nicht lange erklären, ich muss mich nicht mit mir selbst und meinen eigenen Ängsten und Zweifeln befassen, ich muss auch nicht schauen, was das individuelle Kind braucht.
Ich sage einfach: Entweder du tust jetzt, was ich will, oder ich tue dir weh. Denn genau das sind Strafen ja: Handlungen, die so demütigend und schmerzhaft sein sollen, dass sie einen Menschen davon abhalten, etwas Unerwünschtes zu tun. Dass körperliche Strafen, wie etwa ein Klaps oder eine Ohrfeige, auf diesem Wirkmechanismus basieren, leuchtet meist schnell ein. Interessant ist jedoch, dass nicht-körperliche Strafen wie so genannte Auszeiten auf dem „stillen Stuhl“, oder das Wegnehmen eines Weihnachtsgeschenks, genauso dieselben Schmerzreaktionen im Gehirn hervorrufen wie ein Schlag. Schwarze Pädagogik beruht also darauf, Kinder mit Angst vor Schmerzen zum Gehorsam zu zwingen.
Das ist allerdings vielen Menschen gar nicht so bewusst – schließlich sind die meisten von uns selbst mit zumindest einigen dieser Maßnahmen selbst groß gezogen worden. Und was wir aus unserer eigenen Kindheit kennen, empfinden wir oft als normal und nicht so schlimm. Dazu kommt, dass schwarze Pädagogik, zumindest kurzfristig, durchaus funktioniert. Wenn ich einem Kind auf die Hand haue, sobald es die Steckhose anfasst, packt es da wahrscheinlich kein zweites Mal hin. So funktioniert Konditionierung. Einem Kind respektvoll und gleichzeitig klar beizubringen, was geht und was nicht geht, ist langwieriger, anstrengender und schwieriger, und dazu ein Weg, der oft mit vielen Selbstzweifeln behaftet ist: Das klingt ja alles lieb und nett, aber der sanfte Weg funktioniert bei meinem Kind einfach nicht. Denn: Es hört nicht.
„Wenn“, „dann“, „sonst“ – die wenigsten sind wirklich völlig frei davon: Was rätst Du jenen Eltern, die dazu neigen mit diesem Erziehungskonzept zu arbeiten?
Zunächst einmal ist es glaube ich wichtig, sich klar zu machen, was an solchen Wenn-dann-Drohungen so fies ist: Sie sind nämlich im Grunde nichts anderes als eine Nötigung. Man muss ich das mal im Erwachsenenkontext vorstellen:
„Wenn Sie dieses Dossier nicht bis zwölf Uhr fertig haben, dürfen Sie sich heute in der Kantine keinen Nachtisch nehmen!“ – wie willkürlich und bescheuert fühlt sich das denn bitte an?
Gleichzeitig sagen natürlich viele Eltern, dass ein Kind ja auch lernen muss, dass Handlungen Konsequenzen haben. Wenn ich selbst zu schnell fahre, kriege ich im Zweifelsfall schließlich auch ein Ticket. Und das ist ja tatsächlich auch eine Strafe, mit der ich zum vernünftigen Fahren erzogen werden soll.
Der Unterschied ist nur: Eine Familie ist kein Staat. Ein Land mit 80 Millionen Einwohnern lässt sich nicht ohne Gesetze und Vorschriften regieren, und ohne eine Exekutive und eine Judikative, die über die Einhaltung dieser Regeln wacht.
Doch eine Familie ist ein ganz anderes System, hier leben wenige Menschen zusammen, die miteinander in einer ganz engen Beziehung stehen. Und diese Beziehungen sind es, innerhalb derer wir aushandeln können und sollten, was in unserer Familie geht und was nicht.
Das heißt: Anstatt mich in Drohung und Erpressung zu flüchten, rede ich als Mutter lieber von meinen ganz persönlichen Grenzen. „Das will ich nicht. Hör auf damit!“
An eine solche Aussage noch irgendeine angedrohte Strafe dranzuhängen, schwächt meine Botschaft total, denn das suggeriert meinem Kind: „Mama glaubt nicht, dass ich aufhöre rumzuschreien, nur weil sie Kopfweh hat. Sondern nur, weil ich Angst um meine Pokémon-Karten hat, die sie mir dann wegnimmt.“
Gleichzeitig gibt es natürlich Situationen, in denen es total sinnvoll ist, von „wenn“, „dann“ und „sonst“ zu reden: Es gibt ja tatsächlich Konsequenzen, die eintreten, ob ich will oder nicht. Und es ist mein Job als Mutter oder Vater, mein Kind auf diese Konsequenzen hinzuweisen und sie gegebenenfalls auch davor zu warnen.
„Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, verpassen wir den Bus“, ist so ein Beispiel. Oder: „Du kannst jetzt leider nicht mehr weiterspielen, sonst kommen wir zu spät zum Kinderarzt.“ Entscheidend ist, dass wir solche Aussagen ohne jeden drohenden Unterton aussprechen, wirklich als Sachinformation. Und dann entscheiden: Ist diese Konsequenz ein Szenario, das ich in Kauf nehmen kann und will? Oder bin ich hier in der Verantwortung, mich gegebenenfalls auch gegen den Willen meines Kindes durchzusetzen?
Im ersten Fall lasse ich den Bus eben ohne uns wegfahren, in zweiterem schnappe ich mir mein Kind und gehe mit ihm zum Kinderarzt, auch wenn es das vielleicht blöd findet. Wichtig finde ich jedoch, dass wir Eltern auch bei unangenehmen Konsequenzen im selben Team spielen wie unser Kind. Wenn unser Kind beispielsweise den Beginn des Fußballspiels verpasst , weil es so lange rumgetrödelt hat, sagen wir zum Beispiel: „Das tut mir wirklich leid“ und nicht „Siehst du, das hast du jetzt davon. Wenn so immer so langsam bist, dann fangen die anderen halt ohne dich an.“
So sehr ich Deine Meinung schätze und auch meist teile: Auf Twitter hast Du kürzlich geschrieben, dass Deine Kinder selbst entscheiden, wenn sie aufräumen wollen. Da Dein großes Kind ja, glaub ich, schon über 10 ist: Befremdet mich das, wenn es zum Beispiel das Wohnzimmer betrifft. Warum plädierst Du dafür?
Ich habe geschrieben, dass ich nicht das Recht habe, irgendwen zum Aufräumen zu zwingen. Nicht meine Kinder, auch nicht meinen Mann. Obwohl der schon 35 ist! Das heißt nicht, dass ich nichts dazu sage, wenn unser Wohnzimmer im Chaos versinkt. Im Gegenteil! „Helft Ihr mir bitte schnell aufräumen?“, frage ich oft. Als offene Frage, auf die ein Ja eine genauso legitime Antwort ist wie ein Nein. Manchmal sage ich auch: „Papa und ich machen heute Haushalt, wenn Ihr mithelft, geht es schneller.“
Oder: „Ich bin gerade wirklich sehr erschöpft und mich stören die Papierschnipsel auf dem Küchentisch, du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, wenn du die mal eben wegräumst.“ Es gibt ja tausend Möglichkeiten, da meinen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, dass meine Kinder alle drei sehr hilfsbereit sind, so lange sie sich frei fühlen, es auch mal nicht zu sein.
Gleichzeitig glaube ich, dass gerade mit dem Thema Aufräumen sehr viele ungünstige Glaubenssätze verknüpft sind. Für viele Menschen ist es lebenslang eine lästige Pflicht, an die aber auch schon Kinder unbedingt herangeführt werden müssen. Aus Prinzip soll also schon der Dreijährige fünf Duplosteine aufheben, nicht weil es wirklich die Arbeit erleichtert, sondern damit er lernt, dass das gemacht werden muss. „Ich bin ja schließlich nicht eure Putzfrau“, sagen dann viele Mütter zu ihren Kindern, als sei es die ultimative Abwertung, seinen Kindern hinterher zu räumen.
Ich wähle da einen anderen Weg: Meine Kinder mussten noch nie aufräumen. Deshalb ist es für sie auch überhaupt nichts Schlimmes. Manchmal machen sie deshalb ganz ohne Aufforderung ihr Zimmer schön. Manchmal bitten sie mich oder meinen Mann um Hilfe. Manchmal sage ich, dass sie bitte in ihren Zimmern und nicht im Wohnzimmer spielen sollen, weil ich da das Chaos besser ausblenden kann. Manchmal räume ich ihre Zimmer für sie auf, als Liebesdienst. Den sie unglaublich schätzen: Danke, dass du es mir so schön gemacht hast, Mama! Das ist für mich nichts anderes, als ihnen ein schönes Essen zu kochen. Ich tue ihnen etwas Gutes, und sorge mich nicht um die Zukunft. Solche Dinge wie Aufräumen, Bügeln, Wäschewaschen und so weiter lernt man dann, wenn man sie braucht.
Kürzlich unterhielt ich mich mit einer Freundin die einräumte, dass sie auch immer mal wieder mit dem Ausbleiben vom Christkind drohte. Das passiert mir nicht, dachte ich fast schon selbstzufrieden. Allerdings ist es mir auch schon passiert loszuschimpfen, wie ein Rohrspatz, was ich auch nicht so toll finde. Bist Du immer „total ausgeglichen“? Wenn nein: Was ist Dein „Fehlverhalten“? Wenn ja: wie machst Du es?
Natürlich bin ich nicht immer total ausgeglichen, ich bin ja kein Roboter, sondern ein ganz normaler Mensch. Klar bin ich mal schlecht gelaunt, oder unwirsch, oder genervt. Ich sehe mich als Erwachsene aber schon in der Verantwortung, meine Unausgeglichenheit nicht einfach ungefiltert an meinen Kindern auszulassen, sondern, wenn die Wut in mir hochsteigt, inne zu halten und hinzugucken: Was fasst mich da gerade so an? Was haben meine Kinder gesagt oder getan, das mich innerlich so schmerzt, dass ich das Gefühl habe hier rumschimpfen zu müssen wie ein Rohrspatz?
In solchen Momenten dann eben nicht loszubrüllen, sondern mich erstmal mir selbst und meinem eigenen inneren Schmerz und erst dann meinen Kindern zuzuwenden, das habe ich in den vergangenen Jahren in mühevoller Arbeit gelernt. Das heißt nicht, dass es mir immer hundertprozentig gelingt, aber ich merke schon, dass diese Auseinandersetzung mit mir selbst einen großen Einfluss auf unser Familienleben hat. Ich kann jeder Mutter und jedem Vater aus eigener Erfahrung nur dazu raten, sich dieser Aufgabe zu stellen.
Ich finde Schreien nicht per se etwas Schlimmes. In vielen Situationen ist es schlicht eine ganz normale menschliche Reaktion.
Wenn mir jemand heftig an den Haaren zieht, schreie ich auf vor Schmerz.
Wenn mich jemand unverhofft von hinten anspringt, schreie ich vor Schreck.
Wenn mein Kind vors Auto zu laufen droht, schreie ich vor Sorge und aus dem Impuls heraus, mein zu schützen, aus voller Lunge: ‚Stopp!‘
All das ist total okay. Problematisch ist das Schreien, mit dem ich andere demütige, erniedrige, klein mache. Das Anbrüllen, das lautststarke Ausschimpfen.
Und dann ist immer noch die Frage, wie ich damit umgehe. Viele Kinder fangen ja an zu weinen, wenn die Eltern schreien. Halte ich dann inne und entschuldige mich? Oder sag ich: Da muss mein Kind jetzt durch?
Die Freundin, die ihre Tochter zur Strafe ins Auto sitzt. Die Frau, die ihre Kinder im Supermarkt anschreit oder im schlimmsten Fall, wenn man mit nahen Leuten erziehungstechnisch nicht auf einer Welle ist: Was rätst Du, wenn man in Erziehungsfragen mit anderen aneinander prallt?
Das ist eine schwierige Frage. Denn ich finde es sehr wichtig, für Kinderrechte einzustehen, auch wenn es mal unangenehm ist. Gleichzeitig wird das Recht auf gewaltfreie Erziehung hierzulande von offizieller Seite nicht so ausgelegt, dass Anschreien und Wegsperren da klar verboten wären, obwohl es ja durchaus entwürdigende und grenzverletzende Maßnahmen sind. Insofern haben Eltern, die ihr Kind zur Strafe ins Auto sperren oder im Supermarkt rumschreien, aus rechtlicher Sicht nichts zu befürchten. Außerdem muss auch ich mir ja immer wieder bewusst machen, dass auch strafende Eltern das Beste für ihr Kind wollen, das sie lieben wie verrückt. Sie sind nicht böse, sie glauben einfach, dass Kindererziehung so funktioniert und so funktionieren muss – oft, weil sie selbst nichts anderes kennen gelernt haben. Da dann mit Vorwürfen und Belehrungen anzukommen, bringt oft nur noch mehr Druck und noch mehr Gewalt in die Situation. Was also tue ich ganz konkret?
Bei mir persönlich bekannten Menschen versuche ich in ruhigen Momenten ganz behutsam zum Perspektivwechsel anzuregen: Was für ein tolles Kind sie haben! Sehen sie eigentlich, wie oft es kooperiert? Also mir ist ja gerade erst aufgefallen, wie … und so weiter. Wann immer ich die Gelegenheit habe, wende ich mich auch an die Kinder selbst, und sage ihnen, dass sie wunderbar sind, so wie sie sind und dass niemand das Recht hat, ihnen weh zu tun. Dass sie keine je Strafe verdient haben. Dass sie sich nicht anstrengen müssen, gut zu sein, weil sie bereits gut sind. Das alles sage ich in der Hoffnung, damit dem negativen Selbstbild, das durch strafende Erziehung ja vermittelt wird, etwas entgegen zu setzen.
Bei Fremden ist es schwieriger: Da habe ich oft ja nur einen winzigen Ausschnitt einer Situation gesehen, weiß nichts über den Hintergrund der Familie. Mische ich mich da ungefragt ein, wenn ein Vater sein Kind grob am Arm packt? Ich gebe zu: Oft tue ich das nicht, und werfe nur dem Kind einen Blick zu, der Verständnis und Mitgefühl und Solidarität ausdrücken soll. Da wirkt auch in mir diese kulturelle Prägung, dass es sich einfach nicht gehört, sich in anderer Leute Erziehung einzumischen. Manchmal nehme ich aber auch allen Mut zusammen und sage was. So wie neulich im Zoo: „Stop, hören Sie sofort auf, Ihr Kind so grob anzufassen! Das ist nicht okay!“ Ob das dann langfristig irgendwas bewirkt? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass zumindest das Kind aus der Situation mitgenommen hat, dass es nicht in Ordnung ist, anderen Menschen weh zu tun – mit welcher Rechtfertigung auch immer.
Vielen lieben Dank für Deine tollen Antworten, Nora. Mehr Elternfragen zu anderen Themen findet Ihr hier: Wenn Ihr ein Thema vermisst, schreibt doch eine Mail an fruehesvogerl@gmail.com.
Tipps zum Thema: „Wie findet das Baby in den Schlaf“ von Nora Imlau gibt es hier.
Außerdem hat Nora informative Bücher geschrieben wie zum Beispiel: Mein kompetentes Baby: Wie Kinder zeigen, was sie brauchen oder – schon vorstellbar –So viel Freude, so viel Wut: Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten – Mit Einschätzungsbogen.
Mehr Infos zu Nora findet Ihr auf ihrem Blog.