Alltag, Familienrollen

Leben in der Sekte: „Als sie meine Tochter als Bastard-Kind bezeichneten, war die Geschichte für mich gelaufen.“

Auf meinem Twitter-Account stelle ich jeden Morgen eine Frage: Bei einer Diskussion über Religion hat Tanja erzählt, dass sie „Mitglied einer Sekte“ war, welche Geschichte sich dahinter verbirgt, das hat sie mir in den Familienrollen verraten. 

Auf Twitter hast Du erzählt, dass Du Deine Kindheit in einer Sekte verbracht hast: Wie genau kann man sich das vorstellen? 

 

Die Sekte heißt „Freie Evangeliums Christengemeinde“ und ist eigentlich alles Andere, nur eben überhaupt nicht frei. Zumindest nicht die Gemeindemitglieder.

Im Grunde genommen widmet jedeR sein gesamtes Leben der Gemeinde bzw. Gott. Ich selbst bin da quasi reingewachsen, von Anfang an. Jeden Sonntag und Freitag gab es eine Messe, samstags fand zusätzlich etwas für Kinder, Jugendliche und Unverheiratete statt. Mit steigendem Alter und der vollen Aufnahme in der Gemeinde wurden es 6 Tage die Woche.

Zunächst hatte ich nur die erwähnten 3 Termine, aber das wurde zunehmend mehr, je älter ich wurde. Die Einbindung von Jugendlichen war intensiver, sie durften nur sehr wenig mit Außenstehenden zu tun haben.

 

Die Schule war schon ein Problem, überall war direkt klar „Die sind anders“. Mädchen mussten Röcke tragen, durften sich nicht die Haare schneiden oder gar schminken. Jungs hatten nur lange Hosen an, durften keine langen Haare haben. Klassenfahrten waren Tabu, dafür gab es Fahrten innerhalb der Gemeinde, wo dann in den jeweiligen Gruppen zusammen die Bibel tiefer ergründet wurde.

 

Kontakt nach außen gab es in diesen 14 Tagen nicht, alle saßen auf irgendeiner Alm zusammen und paukten Bibelgeschichten. Alleine diese Punkte reichten aus, um „in der Welt“ stigmatisiert zu sein und es schwerer zu haben.

 

Doch das ist nicht alles: Niemand darf einen Fernseher oder ein Radio besitzen, Musik wird nur kirchliche konsumiert, die es dort auch zu kaufen gab. Mit 18 kann man sich taufen lassen, von da an tragen Frauen ein Kopftuch. Kommuniziert als freiwillige Handlung, tatsächlich aber gehört es dazu.

Im Idealfall befasste man sich ausschließlich mit Gott, dem Studium der Bibel oder Gemeindemitgliedern.

Eine Beziehung ist strengstens untersagt, Paare heiraten direkt, ohne sich vorher näher kennen zu lernen. Der Mann fragt die Eltern der Frau, wenn diese einverstanden sind, kommt die Frau dazu und wird ebenfalls gefragt. Ist sie einverstanden, geht es direkt an die Hochzeitsplanung. Wobei hier die standesamtliche Hochzeit keine Bedeutung hat, erst die kirchliche ist bindend.

 

Im Anschluss geht es ziemlich zügig an die Familienplanung. In den alten Familien sind es sehr, sehr viele Kinder (22 hat die größte Familie!), weil Verhütung nicht erlaubt und Sex ausschließlich der Fortpflanzung vorbehalten ist. In den Familien meiner eigenen Generation sind es deutlich weniger Kinder.

 

Frauen sind von da an für die Kindererziehung und den Haushalt zuständig. Haben sie vorher eine Ausbildung gemacht, so gibt sie ihren Beruf auf. Die wenigsten Frauen haben eine abgeschlossene Ausbildung, meistens wird irgendwann zwischen Ausbildungsbeginn und -ende geheiratet. Da der Mann das Familienoberhaupt ist, hat er das Sagen und sein Wort ist Gesetz.

 

Es ist insgesamt eine sehr patriarchalische Familienkonstellation, überhaupt nicht dem heutigen Zeitgeist entsprechend.

Du hast erzählt, dass Du nach dem Tod Deiner Mutter angefangen hast, das Leben dort zu hinterfragen: Was genau ist da passiert?

 

Ja, der Tod meiner Mutter war ein Schnitt mit dieser Religion. Habe ich vorher Dinge hinterfragt oder komisch gefunden, so gab ich mich mit den Antworten zufrieden.

Als ich aber den Tod meiner Mutter realisiert hatte und zu fragen begann, waren die Antworten zerschmetternd. Um das zu erläutern muss ich ein wenig weiter ausholen: Ich kenne meine Mutter nicht wirklich, mein Vater nahm mich mit, als ich 2,5 Jahre alt war und hielt mich vor ihr versteckt, drohte ihr, auch meinen Bruder zu holen, wenn sie sich auflehnt. Sie hielt still, versteckte sich.

 

Als ich ungefähr 12 Jahre alt war, starb sie eines gewaltsamen Todes. Im Grunde war es eine Verkettung unglücklicher Zufälle, doch am Ende traf es sie. Während mein Bruder (10 Jahre) sich retten konnte, starb sie.

Ich wusste aus Erzählungen, dass sie ihr ganzes Leben lang nur eingesteckt hatte, immer für andere da, immer um das Wohl anderer besorgt war. Ich hinterfragte. Wollte wissen, wie ein gütiger Gott das vereinbaren kann. Wieso eine Frau, die so lebte, in Demut und gottesfürchtig, so ein Ende finden musste. Wie es sein konnte, dass Gott sowas zuließ. Wo da die Gerechtigkeit ist. Wo Gottes Güte ist, die doch im neuen Testament so offensichtlich propagiert wird.

Die Antwort machte ich wütend, traurig und nahm mir meinen Glauben: Sie hätte in der Zukunft sicherlich etwas getan, was anderen Schaden würde oder wäre abtrünnig geworden, weshalb sie schon vorher bestraft wurde.

Solche Antworten häuften sich. Eine Familie verlor ihr jüngstes Kind bei einem tragischen Unfall im Urlaub, dazu hieß es, Gott hätte sie bestraft, weil das Geld für den Urlaub in der Gemeinde gebraucht würde und die Familie sich einen egoistischen Urlaub gönnte.

 

Mit der Religionsgemeinschaft mit der Du als Kind zu tun hattest, hast Du heute keinen Kontakt mehr. Wie hat sich das auf Deine Ursprungsfamilie ausgewirkt?

 

 

Tanja heute: Ihr Bildnis als Bloggerin.

Der Bruch mit der Religion bedeutete auch ziemlich schnell einen Bruch mit meiner Familie. Auch wenn nicht alle gläubig sind – wenn ich es mir recht überlege, ist es sogar der kleinste Teil, der tatsächlich in die Kirche geht – so haben durchaus alle eine Meinung, wie die Anderen zu leben haben. Ich war schnell abgestempelt als das schwarze Schaf, mit dem sich meine Cousinen und Cousins möglichst wenig abgeben sollten, weil mein Verhalten auf sie abfärben könnte. Als ich mit 15 auch noch ins Heim ging, war das ein sehr abrupter Bruch, der anhielt.

 

Erst später stellte sich Kontakt zu meinen (Halb-)Geschwistern ein, in diesem Zusammenhang auch zu meiner Stiefmutter und meinem Vater.

 

Endgültig Schluss war aber, als meine älteste Tochter auf die Welt kam. Unehelich, der Kindsvater nicht abgesegnet, völlig „falsch“ und nicht passend. Ich weiß noch, wie sie mich im Krankenhaus besuchten, ganz viele Verwandte, die mein Baby sehen wollten, mir dann aber erzählten, wie Babys seien (blind, taub, haben keine Gefühle, etc. pp) und wie ich mich zu verhalten habe. Als sie meine Tochter als Bastard-Kind bezeichneten, war die Geschichte für mich gelaufen. Seitdem gibt es keinen Kontakt mehr.
Mittlerweile wohne ich 150 km weit weg, ich traf meine Familie noch einmal zur Beerdigung meines Bruders vor 4 Jahren und habe seitdem Kontakt zu einer meiner Tanten, die mein Leben zwar nicht gutheißt, mich aber auch machen lässt und froh ist, dass wir wieder Kontakt haben.

 

Der Rest der Familie hat keine Kontaktdaten. Wenn Kontakt nötig ist, melde ich mich so, dass es nicht zurück verfolgbar ist. Heute hätten sie wohl gerne mehr von meinem Leben, aber das auch nur aus egozentrischen Gründen. Sie sehen, was ich mir mit meinem Mann aufgebaut habe und würden gerne einen Teil davon abhaben, doch dazu bin ich nicht bereit.

 

Was aus dieser Zeit hat Dich am meisten geprägt?

 

Eigentlich alles. Auch wenn ich jetzt ein völlig anderes Leben lebe, so sind die Grundsätze doch tiefer verankert, als ich es mir gern eingestehe. Ich muss mir meine Meinung und meine Gefühle zu bestimmten Themen immer wieder neu vor Augen führen und reflektieren, ob das nun tatsächlich das ist, was ICH für richtig halte.

 

Das fällt mir momentan besonders im Zusammenhang mit meiner ältesten Tochter auf. Wie oft mein erster Impuls ist, sie zu maßregeln, weil sie sich geschminkt hat, freizügige Kleidung trägt oder ähnliches. Oder auch das Leben mit Kleinkind und Baby. In meiner Familie zählt so ein kleiner Mensch nicht, er hat zu funktionieren, zu gehorchen. Das ein oder andere Mal rutscht mir im Stress ein Satz heraus, den ich selbst hörte und der überhaupt nicht meinem Denken entspricht.

Umgekehrt gibt es aber auch positives, glaube ich. Die zehn Gebote, zum Beispiel, finde ich nicht nur auf die Religion bezogen wichtig, sondern auch aus moralisch-ethischen Gründen. Im Prinzip baut ja auch unsere Judikative darauf auf, zumindest auf den meisten.

In einem anderen Interview in den Familienrollen hast Du von Deiner Zeit als junge Mutter berichtet: Woher hattest Du dann die Unterstützung so gänzlich ohne familiären Rahmen?

Oft alleine auf weiter Flur.

Mit aus diesem Grund war diese Zeit für mich so hart, weil es überhaupt gar keine Unterstützung gab. Freunde hatte ich kaum bis gar nicht, meine Familie war ja auch kein Thema. Daher musste ich mich überall alleine durchbeißen und alles alleine schaffen.

 

Manchmal dachte ich daran, mich bei meiner Familie zu melden und um Hilfe zu bitten, aber ich wusste auch, dass mir niemand geholfen hätte. Nicht bei meinem Lebensweg, nicht unter diesen Umständen. Ich weiß noch, dass ich eine Zeit lang heimlichen Kontakt mit meiner gleichaltrigen Cousine hatte, die mir immer wieder sagte, dass ich doch selbst schuld sei. Ich hätte ja den Vater meiner Tochter heiraten sollen und ich wäre die schrecklichste Rabenmutter, weil meine Tochter in einen Kindergarten ging und ich meine Ausbildung machte.

 

Kindergärten sind nämlich auch so eine Sache, die zu vermeiden ist. Immerhin sind sie für diese Familien ja auch nicht nötig, weil die Betreuung ausschließlich von der Mutter, in Ausnahmen von der erweiterten Familie, übernommen wird.

 

Was bedeutet Religion heute für Dich und was vermittelst Du Deinen Kindern?

Tatsächlich wurde Religion erst mit den Kindern wieder Thema für mich. Lange wollte ich damit überhaupt nichts zu tun haben. Meine Kinder sind nicht getauft oder sonst irgendwie in eine Kirchengemeinde aufgenommen, diese Entscheidung möchte ich ihnen selbst überlassen.

 

Aber sie bekommen kirchliche Feste natürlich dennoch mit, ich erzähle ihnen auch die Geschichte dahinter, nur eben nicht dogmatisch, sondern nur als Geschichte. Ich erzähle ihnen auch von Gott, Jesus, etc., aber sie wissen, dass es Menschen gibt, die daran glauben und Menschen, die daran nicht glauben.

Meine älteste Tochter hat in der Grundschule am Religionsunterricht teilgenommen, vor allem um sich eine vollumfängliche Meinung zum Christentum bilden zu können. Auch wenn sie oft fluchte, weil ihre Klassenkameraden, durch die sehr starke religiöse Bindung hier auf dem Land, immer einen Vorteil hatten, so lernte sie dennoch die wichtigsten Themen kennen.

Heute ist sie 13 Jahre alt und hat für sich entschieden, dass sie nicht an Gott glaubt. In der weiterführenden Schule besucht sie den Kurs für praktische Philosophie und ist damit ganz zufrieden. Die beiden Jüngsten haben davon noch keine Vorstellung, das wird sich erst in den nächsten Jahren ergeben.

 

Danke für Deine Geschichte, Tanja. 

 

Ihr habt auch ein Thema über das Ihr in den Familienrollen mal sprechen wollt? Dann schreibt mir doch eine Email an fruehesvogerl@gmail.com.

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