Alltag, Familienrollen, Nachgefragt

Früher einschulen und dann noch eine Klasse überspringen? Ein Erfahrungsbericht

Früher einschulen? Auch mal eine Klasse überspringen? Bei kaum einen Thema bin ich so skeptisch, ein Grund mal bei Cornelia nachzufragen, die Erfahrungen dazu gemacht hat und mir auf Twitter immer sehr reflektiert vorkommt.  Cornelia ist die Mutter von Alex (10) und seiner Schwester Kathi(8) und teilt ihre Erfahrungen in den Familienrollen.

Auf Twitter hast Du erzählt, dass Dein Kind zwei Jahre jünger ist, als die Klassenkameraden: Wie kam es zu der Entscheidung eine Klasse zu überspringen?

Mit dem Thema Hochbegabung bin ich schon viel länger vertraut, nämlich schon aus der eigenen Familiengeschichte heraus. Vielleicht waren wir daher auch viel sensibler als andere Eltern, die noch nie damit in Berührung gekommen sind – und das kommt gar nicht so selten vor. Dass unser Großer pfiffig ist, fiel schon recht früh auf, aber wir haben es zuerst auch relativiert: wir hatten auch nicht so wahnsinnig viele Vergleiche mit anderen Kindern.

Unser eigenes kam uns zu Hause natürlich immer ganz normal vor und man will ja auch nicht gleich als überengagierte, ehrgeizige „Tenniseltern“ abgestempelt werden.

Darauf angesprochen wurde ich zuerst von einer Freundin und Nachbarin aus dem Gebutsvorbereitungskurs, sie ist Erzieherin und hatte sehr wohl einen Vergleich zu Gleichaltrigen; da war er etwa zwei Jahre alt. Zu ihrer eigenen Tochter ist mir ein Unterschied überhaupt nicht aufgefallen – aber die war bzw. ist eben auch sehr pfiffig.

Woran merkten wir also nun, dass er sich sehr wohl von Gleichaltrigen unterschied?

Er hat weder früher laufen gelernt als andere, noch früher gesprochen. Als er es allerdings gelernt hat, konnte er es in Windeseile sehr perfekt – mit Zweiwortsätzen hat er sich nicht lange aufgehalten. Im Kindergarten spielte er gern mit den älteren Kindern und hatte teilweise andere Interessen als die Gleichaltrigen. Die Überlegung war nun, was passiert, wenn all die älteren Kinder nun regulär eingeschult werden und er zurückbleibt. Schon recht früh, als er vier Jahre alt war, haben wir überlegt, ob eine frühzeitige Einschulung möglich ist.

Wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht – er war ein recht schüchternes, ängstliches Kind, das Schwierigkeiten hatte, mit neuen Situationen umzugehen oder sich in neuen Gruppen zurechtzufinden. Ein Kind das immer jemanden brauchte, der es an die Hand nahm. Wäre es wirklich gut, ihn schon ein Jahr früher der neuen Situation „Schule“ auszusetzen?

Wir führten viele Gespräche mit den Erzieherinnen, der Kita-Leitung, haben uns Beratung (in einer Praxis für (Hoch-)Begabtenberatung) eingeholt und sind zum Elterngesprächskreis der DGhK e.V. gegangen. Gemeinsam mit der Kita haben wir dann entschieden, ihn zunächst tatsächlich am Programm der Vorschulkinder teilnehmen zu lassen, damit wir sehen können, wie er sich zurechtfindet und ihm diese wichtige Erfahrung und Vorbereitung nicht nehmen wollten durch eine zu spontane Entscheidung. Die Absprache war, dass es überhaupt kein Problem ist, wenn wir kurzfristig entscheiden, ihn doch nicht einzuschulen, wir hätten das jederzeit zurückziehen können; erst ab dem Tag der Einschulung ist das Kind dann auch schulpflichtig.

Was dann folgt, ist die Anmeldung in der Grundschule. Hier haben wir einen gesonderten Termin bekommen, bei dem die Direktorin ihn besser kennenlernen konnte. Dann kommt die Einschulungsuntersuchung. Das Ergebnis dort hat übrigens (zumindest hier in NRW) immer nur einen empfehlenden Charakter. Die Entscheidung treffen Eltern und die aufnehmende Grundschule (die sich aber natürlich gern an die Empfehlung halten). Währenddessen brachte er sich mit fünf Jahren das Lesen selber bei. Wir haben uns nicht ein einziges Mal mit ihm hingesetzt und irgendwelche Buchstaben gepaukt, aber natürlich geantwortet, wenn er Fragen gestellt hat. Außerdem gab ihm der neue Status „Vorschulkind“ nochmal einen richtigen Anschubser für sein Selbstbewusstsein. Auch in den oben genannten Terminen fiel er als „kognitiv sehr weit“ auf und letztendlich wurde einer früheren Einschulung „mit Bauchschmerzen“ seitens der Direktorin stattgegeben. Direkt am ersten Schultag hat er der Lehrerin erzählt, dass er schon lesen kann – sie hat ihn dann ein ganzes DINA4-Blatt vorlesen lassen und war doch erstaunt, dass er nicht geschwindelt hatte.

Zunächst lief es in der Schule gut. Er kannte viele Kinder aus seiner Schulklasse aus dem Kindergarten, erledigte seine Hausaufgaben und hatte überhaupt keine Mühe mit dem Unterrichtsstoff. Gegen Anfang des zweiten Schuljahres wurde es etwas schwieriger. Er weinte oft, beklagte, dass er keine Freunde habe, dass er Mathe nicht versteht und zu dumm dafür ist. Er quälte sich stundenlang mit den Hausaufgaben und tat sich im Unterricht schwer. Cave: An dieser Stelle hätte sich für viele andere Eltern und Lehrer sicher der Gedanke aufgedrängt, dass das Kind überfordert ist, dass die frühe Einschulung eine falsche Entscheidung ist und ihn ggf. zurückstellen lassen.

Wir führten also wieder viele Gespräche – mit Beratung, Lehrerin, Direktorin, allen zusammen. Im Zuge dessen haben wir ihn dann auch testen lassen. Ursprünglich hatten wir uns erstmal dagegen entschieden, weil für uns selbst eigentlich klar war, wie unser Kind tickt. Für die eigene Sicherheit und auch, um mit der Schule besser argumentieren zu können, haben wir uns dann doch für einen IQ-Test entschieden. Dabei kam eine sehr hohe Begabung heraus, die auch für ein hochbegabtes Kind noch außergewöhnlich ist. Da mussten wir uns selbst doch auch nochmal auf den Hosenboden setzen – es ist immer nochmal ein anderes Gefühl, wenn man so ein Gutachten dann schwarz auf weiß in der Hand hält.

Die Lehrerin sah zwar sein Potential, hatte auch viele gute Ideen, ihn über das normale Maß hinaus zu fordern, hat aber leider nicht eine einzige davon jemals umgesetzt. Da wir so nicht weiterkamen, brauchten wir einen Plan B. Eine Klasse überspringen? Obwohl er doch eh schon jünger ist? Und immernoch so schüchtern? Die Direktorin entschied wieder in unserem Sinne, allerdings wieder „mit Bauchschmerzen“. Wir hatten wirklich großes Glück, denn so etwas muss immer gut begleitet werden. Wie lief das nun ab?

Das erste Glück war, dass eine meiner Arbeitskolleginnen einen Sohn in genau der Klasse hatte, in die mein Sohn wechseln sollte. Wir haben uns also vorher einmal getroffen und die beiden Jungs haben sofort so toll miteinander gespielt, als würden sie sich schon ewig kennen. Das zweite Glück war, dass wir die Lehrerin kannten, die ihn aufnehmen sollte – ich von früher, er als Mutter eines Kindes seiner ehemaligen Kindergartengruppe. Das waren schon mal zwei gute Voraussetzungen.

Am ersten Schultag in der neuen Klasse war sie allerdings nicht da, hatte aber ihre Klasse toll vorbereitet (er musste nicht nur die Klasse, sondern auch das Schulgebäude wechseln): sie holten ihn am Schulhof ab, hatten in der Klasse schon einen Platz für ihn ausgesucht und ihm ein Fach freigeräumt und ihm eine Patin zur Seite gestellt, die ihm alles zeigen würde. Wie das Nachholen des Stoffes im Einzelnen funktionierte, kann ich gern an anderer Stelle ausführlich beantworten, aber das Fazit ist: er hat sich sehr schnell gut eingelebt in der neuen Klasse und schon nach zwei Wochen strahlend zu mir gesagt: „Mama, Mathe ist jetzt mein neues Lieblingsfach!“ Es war unglaublich, wie dieses schüchterne Kind sich entwickelt hat und wie die Trauer, die bedrückte Stimmung verschwanden und er wieder lachen konnte!

Wie ist das formal geregelt?

Ich kann hier nur für NRW sprechen, denn schulische Dinge sind leider nicht einheitlich geregelt, sondern unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Hier ist es so, dass so ein Überspringen erstmal auf Probe läuft. Formal war es so, dass wir nach der abgesprochenen Erprobungsphase einen offiziellen Antrag an die Schulleitung gestellt haben – dafür mussten wir ein Formular ausfüllen und ein Schreiben mit unserer Begründung einreichen. Diese entscheidet dann, ob das Kind in die nächste Jahrgangsstufe versetzt wird und dieses bekommt man auch vom Schulministerium bestätigt.

Du hast erzählt, dass Dein Kind einen zu schweren Rucksack für sein Alter hat. Welchen Unterschied siehst Du noch zu Klassenkollegen?

Inzwischen geht er zum Gymnasium. Das birgt nochmal neue Herausforderungen, die gemeistert werden wollen – in unserem Fall z.B. eine Busfahrt zur Schule, viel mehr verschiedene LehrerInnen, schwere Bücher für jedes Fach, ein viel größeres Gebäude, viel mehr Schüler. Die Busfahrt meistert er hervorragend seit dem ersten Tag. Anfangs gab es noch Unsicherheiten, wie z.B. wenn der Busfahrer ihn hat stehen lassen, weil der Bus schon voll war. Hier hat uns das Handy einige Situationen sehr erleichtert – entweder konnte ich ihn fahren oder beruhigen, dass der nächste Bus auch noch ausreichend ist. Auch die anderen Veränderungen hat er super weggesteckt – die erste Lösung war, dass er sich ganz klar für diese eine Schule entschieden hat. Eines seiner Kriterien war nämlich, dass sie die übersichtlichste war, so dass er sich mit langen Gängen auf mehreren Etagen viel besser zurechtfinden kann, als in Schulen, wo es um Ecken und Winkel geht und man sich schneller verläuft. Mit der neuen Lehrersituation umzugehen, fiel leicht, da zwei tollen Klassenlehrerinnen die Klasse sehr liebevoll und aufmerksam begleiten.

 

Die Bücherfrage haben wir gelöst, indem ich alle Bücher doppelt gekauft habe. Die, die von der Schule zur Verfügung gestellt werden, lässt er in der Schule, ein zweites Exemplar hat er jeweils zu Hause. Das verhindert sowohl die Schlepperei, als auch die kleinen organisatorischen Schwierigkeiten, wenn man daran denken muss, für bestimmte Hausaufgaben dann auch das richtige Buch einzustecken.

An Tagen, an denen er einen schweren Rucksack plus Sportzeug und Kunstsachen mitschleppen muss, fahre ich ihn auch schon mal öfter in die Schule, an seinem langen Schultag (einmal in der Woche bis 16 Uhr) hole ich ihn ab, weil er dann auch echt erschöpft ist. Und ja, ich weiß inzwischen längst, wo man im Bus vergessene Sportbeutel wieder abholen kann und dass die netten Menschen von den Verkehsbetrieben einem das Portemonnaie mit dem Schokoticket sogar zurück nach Hause bringen.

Wenn Klassenkollegen zwei Jahre älter sind, ist die Pubertät bestimmt oft ein Stück näher. Wie wird das aufgefangen?

Mit den Klassenkameraden kommt er trotz des Altersunterschieds gut zurecht, auch wenn er nicht eng mit ihnen befreundet ist. Er hat einen einzigen guten Freund in der Klasse und laut eigener Aussage ist das für ihn so vollkommen in Ordnung. Weitere Freunde findet er in seiner Freizeit und bei seinen Hobbies. Was uns ansonsten auffällt bei einem Altersunterschied von zwei Jahren, sind die Themen, die die Kids von heute beschäftigen. Da werden Computerspiele gezockt, die für diese Altersgruppe eigentlich noch gar nicht geeignet sind – und unser Kind ist halt nochmal zwei Jahre weiter davon entfernt, als die anderen. Hier versuchen wir, sensibel und individuell mit Wünschen umzugehen.

 

Wenn er uns nach bestimmten Spielen fragt, schauen wir uns das an und entscheiden dann, was wir erlauben und was nicht – das erklären wir dann auch. Damit er mitreden kann, haben wir Weihnachten auf Wunsch unserer sehr veraltete Spielekonsole durch eine aktuelle ersetzt. In der Whatsapp-Klassengruppe lese ich sporadisch (nach Absprache) mit, um einschreiten zu können, wenn da Dinge gepostet werden, über die man sprechen sollte. Aber an dieser Stelle ist auch die Schule sehr gut aufgestellt. Als dieser unsägliche gruselige Momo-Kettenbrief herumging, wurde sofort jemand von der Polizei eingeladen, der dazu sprach und das auch in einer Extra-Stunde im Klassenverband thematisiert.

 

Dass die Pubertät ins Haus steht, ist ihm durchaus bewusst, es wurde ja auch im Unterricht schon thematisiert (die Kinder haben schon in der 4. KIasse gelernt, dass man ab der Pubertät täglich duschen sollte, das finde ich schon mal eine sehr gute Vorbereitung.

Letztens hatte er ein Pickelchen am Kinn und fragte: „Komme ich jetzt in die Pubertät?!“ Ich glaube, körperlich dauert das durchaus noch eine Weile. Auf alles andere müssen wir uns dann nach und nach einstellen. Uns ist klar, dass wir ggf. auch mit bestimmten Situationen kreativ umgehen werden müssen – was ist, wenn die Frage nach alleinigen Kinobesuchen aufkommt? Nach Filmen mit Altersbeschränkung? Später mal Discobesuchen/ länger Ausgehen etc.? Aber da mache ich mir genau dann Gedanken drum, wenn es so weit ist und bin zuversichtlich, dass wir auch dann eine Lösung finden. Aber ich zerbreche mir nicht jetzt schon den Kopf darüber – möglicherweise interessiert er sich ja auch gar nicht dafür. Ich habe damals als ältere Schwester sämtliche Freiheiten bei meinen Eltern hart erkämpft und mein Bruder, der sie hätte nutzen können, hatte gar kein Interesse daran. Also rege ich mich nicht über ungelegte Eier auf.

Alex machte sich letztes Jahr Gedanken darüber, wie es wohl beim Abitur wäre (er hatte das erste Mal die trinkende und feiernde Schülermenge beim Abigag erlebt) und meinte, wenn er mit 16 Abi macht, dürfe er ja noch gar keinen Alkohol trinken. Dass er Bier durchaus mit 16 trinken dürfe, hat ihn erstmal beruhigt. Das Thema kann noch etwas warten.

Das Kind eine Klasse überspringen lassen: Würdest Du es wieder machen, was habt Ihr vielleicht dabei unterschätzt und vor allem, was rätst Du anderen, die sich mit dem Gedanken tragen?

Mein Fazit ist: Im Nachhinein war beides eine gute Entscheidung – die vorzeitige Einschulung und das Überspringen der Klasse. Es war für uns und für dieses Kind die absolut richtige Entscheidung – jedes Kind ist anders und jeder Fall ist individuell zu betrachten, daher ist das hier ganz sicher nicht als allgemeine Empfehlung zu betrachten.
Unser zweites Kind ist ebenfalls früher eingschult worden, könnte kognitiv auch längst eine Klasse überspringen, aber aus verschiedenen Gründen haben wir uns bisher ganz bewusst dagegen entschieden. Dank einer ganz tollen Klassenlehrerin, zu der sie eine gute Bindung hat, sind wir auf einem ganz guten Weg und müssen sehen, was die Zukunft uns beschert.
Was ich jedem ans Herz legen möchte, der vor einer solchen Frage steht ist: Lasst euch gut beraten. Lasst euch beraten von jemandem, der sich mit Hochbegabung auskennt – das ist bei Lehrern und in SPZs leider nicht immer der Fall. Lasst euch vor Allem nicht verunsichern – ihr seid die Experten für euer Kind. Was mir noch wichtig ist: Denkt nicht zu weit im Voraus. Was jetzt richtig ist, für euer Kind, ist wichtig. Es kann sein, dass es in zwei Jahren schon wieder eine neue Lösung braucht, dann überlegt neu. Aber immer nur einen Schritt nach dem Anderen.

Die DGhK e.V. – die deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind – bietet telefonische Erstberatung an und in vielen Städten bundesweit Elterngesprächskreise, die professionell geleitet werden. Dort kann man sich informieren, Beratung einholen und die nächten Schritte überlegen. Gerne dürft ihr mich auch ausfragen, wenn ihr noch mehr wissen möchtet.

Vielen Dank, Cornelia.

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