Annie möchte hier nicht mit vollem Namen auftreten: Was sie allerdings erzählt ist, dass sie und ihre Partnerin einmal ein bisschen weniger als 40 und einmal ein bisschen mehr als 40 Jahre alt sind und in Bayern wohnen. Außerdem gibt sie interessante Einblicke in ihr Leben mit ihrer Pflegetochter in der Regenbogenfamilie in den Familienrollen. Vielen Dank dafür.
Ihr seid eine Regenbogen-Pflegefamilie: Wie schwer war der Weg zur Pflegschaft?
Als wir für uns als Frauenpaar den Entschluss gefasst haben, als Familie mit Kind leben zu wollen, stellte sich die Frage „wie“. Für uns war sehr schnell klar, dass wir ein Pflegekind aufnehmen möchten, denn wir waren ein Paar mit Kinderwunsch ohne Kind und „irgendwo da draußen“ gab es ein Kind mit Elternbedarf ohne Eltern. An einer Pflegschaft fanden wir zudem gut, dass dieser Prozess immer transparent für das Kind gestaltet wird, der Zugang zur Herkunftsfamilie immer offen ist und man eine Begleitung durch das Jugendamt hat.
Das Prozedere beim Jugendamt dauerte ca. 1 Jahr und bestand aus Gesprächen, Biografiearbeit, Hausbesuchen und einem Vorbereitungsseminar. Uns wurde jedoch klar, dass es für uns als Frauenpaar in diesem Jugendamt schwer werden würde. Daher bewarben wir uns bei einem Jugendamt weiter weg, das uns eine Woche nach dem Kennenlernen erstmals von unserer jetzigen Pflegetochter erzählte. 6 Wochen später zog dieses wunderbare Kind im Alter von 5 Monaten bei uns ein.
Ihr seid die Eltern eines Kindes: in wie weit spielt das Thema „Pflegschaft“ in den Alltag rein?
Unser Alltag unterscheidet sich nicht von dem anderer Familien. Mit einer Pflegschaft gehen aber zusätzliche Termine und Verpflichtungen einher. Bei uns sind das z.B. Besuchskontakte mit der Herkunftsfamilie, Hausbesuche durchs Jugendamt, Hilfeplangespräche mit allen Beteiligten und Absprachen und Termine mit dem Ergänzungspfleger. Da wir mittlerweile selbst Teile des Sorgerechts innehaben, müssen wir jährlich einen Bericht an das Familiengericht verfassen. Verpflichtungen gibt es also viele. Rechte dagegen weniger…
Aufgrund unseres guten Verhältnisses zur Herkunftsfamilie und den Umständen, weshalb unser Kind zu uns fand, kommen Ängste, dass unser Kind zurück zu seiner Herkunftsfamilie muss, nur sehr selten auf und beeinflussen unseren Alltag kaum. Aber natürlich muss man einen Umgang damit finden, dass das Kind einem rechtlich „nicht gehört“. Bei uns hat dies die Zeit gebracht.
Für unser Kind ist es wichtig, dass wir bzgl. der Pflegschaft offen und ehrlich mit ihr umgehen. Das bedeutet konkret, dass wir unserer Tochter ganz selbstverständlich davon erzählen, wie sie zu uns kam, dass wir ihr auch schwere Themen ihrer Biografie nicht vorenthalten, sondern kindgerecht und auf ihre Initiative hin mit ihr besprechen. Dafür setzen wir uns intensiv mit dem Thema Biografiearbeit auseinander, besuchen Seminare und tauschen uns mit anderen Pflegeeltern aus. Unser Wunsch ist, dass unsere Tochter das Gefühl haben soll, dass sie immer mit jeder Frage und allen aufkommenden Gefühlen zu uns kommen kann. Bisher bin ich ganz zufrieden, wie uns das gelingt.
Auf Twitter hast Du erzählt, dass Ihr fast ein zweites Kind bekommen hättet, dann aber doch nicht. Das klingt dramatisch. Wie geht Ihr als Familie damit um?
Dass ein Kindervorschlag nichts wird, damit muss man als Pflegeeltern immer rechnen und das haben wir mehrfach erlebt. Zum einen kann immer Unvorhergesehenes passieren, zum anderen muss man selbst in sich reinspüren, ob man dem entsprechenden Kind (zusätzlich zur bestehenden Familie) gerecht werden kann – und wenn nicht, absagen. Der von dir angesprochene Fall war für uns daher emotional so belastend, weil eine intensive Vorbereitung vom Kindervorschlag bis zur letztendlichen Absage vorausgegangen war, weil wir schon Fotos des Neugeborenen gesehen hatten und weil wir am Tag des Kennenlernens des Kindes mit der Begründung des Vormunds: „Ich habs mir anders überlegt“ einfach stehengelassen wurden. Es hat Wochen gedauert, bis wir wieder im Alltag ankamen und es klingt bis heute nach. Im Nachhinein wissen wir, dass wir zwischen die Fronten zweier sich um die Zuständigkeit streitenden Jugendämter geraten waren. Das finde ich vor allem für das Kind, das bis heute (fast ein Jahr später) noch in Bereitschaftspflege lebt, besonders traurig.
Ihr seid Pflegeeltern: Hat man in Deutschland als Pflegeeltern gute Optionen auf Adoption oder sind das zwei völlig unterschiedliche Dinge?
Prinzipiell sind das in Deutschland zwei voneinander getrennte Vorgänge, was man auch daran sieht, dass es in den Jugendämtern unterschiedliche Abteilungen für Adoption und Pflegschaft gibt. Bei der Adoption wird das Kind ja rechtlich ganz das Kind seiner Adoptiveltern. Dies ist bei der Pflegschaft nicht der Fall. Plakativ gesagt, sind Pflegeeltern lediglich Außenstellen des Jugendamtes – quasi eine Alternative zum Heim.
Für die meisten Pflegeeltern jedoch sind ihre Pflegekinder gefühlt „ihre“ Kinder, die sie finanziell und rechtlich abgesichert haben möchten, weshalb das Thema Adoption gedanklich schon eine Rolle spielt.
Meine Frau und ich, wir würden uns wünschen, unsere Tochter nach ihrem 18. Geburtstag zu adoptieren – und zwar auf Grundlage einer Minderjährigenadoption. Damit hätten wir die Möglichkeit, sie finanziell abzusichern und ihre rechtlichen Verpflichtungen gegenüber ihrer leiblichen Familie aufzuheben. Dabei wird vor allem aber entscheidend sein, was unser Kind möchte. Sie soll von unserer Seite nie in einen Loyalitätskonflikt gedrängt werden und wir möchten sie auch nicht von ihrer leiblichen Familie abgrenzen.
Ihr seid eine „Regenbogenfamilie“: in wie weit ist das Thema für das Kind oder war es das vielleicht im Rahmen der Anwärterschaft der Pflegschaft?
Für unser Kind scheint die Tatsache, dass sie zwei Mamas hat bisher kaum eine Rolle zu spielen. Sie hat Mama und Mami und spielt gleichzeitig mit ihren Freundinnen und Freunden „Mutter, Vater, Kind“. Auch die Kinder im Kindergarten, für die wir anfänglich etwas Besonderes waren und die viel fragten, haben mittlerweile erkannt, dass es bei uns zugeht, wie bei allen anderen Familien auch. Wir suchen auch nicht aktiv den Kontakt zu anderen Regenbogenfamilien. Die Kontakte, die wir haben, haben sich so ergeben. Wir erleben uns selbst nicht als anders und möchten uns daher keiner Kategorie zuordnen. Wenn überhaupt, dann fühlen wir uns aber der Gruppe der Pflegeeltern zugehöriger als der Gruppe der Regenbogenfamilien, weil uns mit dieser Gruppe thematisch mehr verbindet. Übrigens: Pflegeeltern sind unter den Regenbogenfamilien nur ein sehr geringer Anteil.
Was die Belegung von gleichgeschlechtlichen Paaren durch das Jugendamt betrifft, so ist uns klar geworden, dass hier entscheidend ist, wie viel Mitspracherecht das Jugendamt den leiblichen Eltern gewährt. Prinzipiell müssen leibliche Eltern mit einbezogen werden. Ob ein Jugendamt es zulässt, dass gleichgeschlechtliche Pflegeeltern von vornherein von leiblichen Eltern abgelehnt werden dürfen, das liegt am Jugendamt und war letzten Endes unsere Entscheidung, uns bei einem anderen Jugendamt zu bewerben.
Nun seid Ihr ja schon eine Weile Pflegeeltern: Was hättest Du gerne vorher schon gewusst?
Ich würde behaupten, ziemlich informiert in das Thema Pflegschaft gestartet zu sein. Worauf ich mich nicht vorbereiten konnte, war der Umstand, dass ich am Anfang nicht alles so toll fand, wie ich es mir vorgestellt hatte, während meine Umwelt natürlich dachte „Nun ist das Wunschkind da! Nun muss sie glücklich sein- und zwar 24h“. Meine Gefühle schienen der plötzlichen Mutterschaft nicht hinterherzukommen. Wir hatten 14 Tage, von dem Tag, an dem feststand, dass dieses Kind bei uns einzieht, bis zum endgültigen Einzug – davon 3 Tage Vorbereitung zu Hause und 11 Tage Kennenlernen vor Ort. Meine Frau musste schnell wieder Arbeiten und ich saß da. Keine Hormone, die mich wachhielten, keine Kontakte zu anderen Müttern. Es hat gedauert bis ich mich in der Rolle als Mutter zurechtgefunden habe und bis die Bindung zu meinem Kind gewachsen war. Als ich das Jahre später in einer Pflegeelterngruppe ansprach, waren alle dankbar dafür. Denn so war es vielen gegangen.
Einen zweiten Punkt, den ich auch unterschätzt habe, waren die Kontakte zur Herkunftsfamilie. Ich bin davon überzeugt, dass diese gut und wichtig sind und bei uns verlaufen sie auch vollkommen problemlos. Dass diese Kontakte aber nicht nur fürs Kind sondern auch für uns emotional anstrengend sind, damit hätte ich nicht gerechnet. Warum das so ist, darüber denke ich immer wieder nach und habe noch keine für mich zufriedenstellende Antwort gefunden. Vielleicht, weil einem dieser Termin die Besonderheit unserer Familie vor Augen führt und deutlich macht, dass wir als Pflegefamilie nicht nur ein Kind, sondern auch seine Herkunft und alles, was damit zusammenhängt, in unser Leben gelassen haben. Vielleicht wird einem aber durch solche Termine auch das die emotionale und rechtliche Unsicherheit vor Augen geführt, in der wir leben.
Was rätst Du anderen Familien, die sich mit dem Thema Pflegschaft auseinandersetzen?
Wohlinformierte Naivität, würde ich es nennen. Mit wohlinformiert meine ich, dass ich persönlich raten würde, sich mit der Thematik intensiv auseinandersetzen, viel lesen, im Kontakt mit dem Jugendamt alles offen ansprechen, eigene Sorgen und Ängste ernst nehmen, Fragen stellen und ausloten, was man selbst leisten kann und möchte. Wir Pflegeeltern müssen nicht die Welt retten und es ist keinem geholfen – am wenigsten dem Kind – wenn wir uns selbst überschätzen oder denken, dass mit Liebe alles geht, denn z.B. die Auswirkungen einer Alkohol- oder Drogenschädigung beim Kind können nicht weggeliebt werden. Ich rate auch zur Auseinandersetzung mit den Themen Traumatisierung und Bindungsstörung und halte es für wichtig, dass Pflegeeltern eine Vorstellung davon haben, was Biografiearbeit bedeutet.
Für mich waren außerdem Pflegeelternforen ein guter Ort, um eine Ahnung zu bekommen, was eine Pflegschaft heißen kann. Und hier kommt die Naivität ins Spiel. Denn was man in solchen Foren liest, das kann abschrecken. Manches Pflegekind bringt wirklich das Potential mit, eine Familie zu sprengen. Unsere Naivität bestand darin, zu glauben, dass uns das nicht treffen wird. Wir glaubten trotz allem, dass wir alles weglieben können. Mittlerweile wissen wir, dass das nicht möglich ist. Aber wären wir nicht so naiv gewesen und hätten uns abschrecken lassen, dann wären wir heute noch zu zweit und hätten das beste Abenteuer unseres Lebens verpasst: Unser Kind!
Vielen lieben Dank für das Interview.